Einleitung
Diplomatie, im Folgenden verstanden als ein „sophisticated system for handling affairs of state and negotiating treaties“1, im Interesse des jeweiligen repräsentierten politischen Gebildes, gilt als zeitlos relevant für die Ausübung von Politik2. So verlangte Diplomatie auch in der Antike einen bestimmten Grad an Ritualisierung3. Es gab eine Erwartungshaltung der involvierten Parteien, was die Formen der diplomatischen Kommunikation, die Rollen der Beteiligten und die Verhandlungsabläufe betraf4. Eine erfolgreiche politische Interessensvertretung erforderte die Beherrschung der Formen des diplomatischen Austauschs und Kenntnis der Erwartungshaltung des Gegenübers, damit der eigenen Verhandlungsposition nicht unnötig durch brüskierendes Auftreten geschadet wurde5. Vor diesem Hintergrund ist Skepsis angebracht, wenn antike politische AkteurInnen, auch sehr erfahrene, in antiker Literatur wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen in punkto Außenpolitik und Kommunikation im eigenen Einflussbereich erscheinen.
Mitunter mochte dies am individuellen Auftreten gelegen haben; brüske Schroffheit könnte gelegentliches Mittel gewesen sein, um die eigene Verhandlungsposition nachdrücklich darzustellen. Doch mahnt die Häufung der Fälle diplomatischer Taktlosigkeit gerade bei Personen, die griechisch-römischen Autoren als „barbarisch“ oder „tyrannisch“ agierend galten, zu kritischer Skepsis. Es liegt ein Topos in griechischer und römischer Literatur vor, der solchen Personen, teilweise in recht plakativer Schilderung, das Fehlen diplomatischen Fingerspitzengefühls zuschreibt – eine weitere Erscheinungsform des Mangels an σωφροσύνη (Maßhaltung) beziehungsweise moderatio (Maßhaltung) als philosophische Kardinaltugend und Idealeigenschaft des guten Politikers.
Da die argeadische Monarchie oftmals von griechischen und römischen Autoren als „barbarisch“ oder „tyrannisch“ beschrieben wurde, unterlag die Darstellung von diplomatischen Aktivitäten ihrer Mitglieder oftmals dem Topos des undiplomatischen Benehmens. Dies betraf nicht nur den jeweiligen Herrscher oder generell die männlichen Mitglieder des Argeadenhauses, sondern auch die weiblichen Repräsentantinnen, die im diplomatischen Bereich im Interesse ihrer Dynastie sichtbar wurden. In ihrem Fall kam erschwerend hinzu, dass ihre erweiterten Handlungsräume als Teil der Monarchie ohnehin von nicht-makedonischen Literaten als Normverstöße betrachtet wurden6.
Im Folgenden wird anhand von zwei Argeadinnen, die besonders prominent als Interessensvertreterinnen ihres Hauses aufscheinen, aufgezeigt, in welcher Weise der Topos des undiplomatischen Verhaltens auf die literarische Darstellung ihrer Handlung der diplomatischen Interessensvertretung übertragen wurde. Es handelt sich um die erste Argeadin mit einem öffentlichen Profil, Eurydike, Gattin des argeadischen Herrschers Amyntas III., und um Olympias, Gattin Philipps II. und Mutter Alexanders III.
Die literarischen Schlaglichter auf ihr Auftreten im diplomatischen Bereich sind bislang noch nicht im Sinne einer quellenanalytischen Analyse auf einen solchen Topos hin untersucht worden. Ziel des Beitrags ist, durch die Identifikation dieses Negativtopos ein weiteres Analyse-Instrument zu schaffen, das dabei helfen soll, griechische und römische Informationen zu ihrem politischen Wirken kritisch-dekonstruierend zu betrachten. Übergeordnete Intention ist, in exemplarischer Weise Eurydikes und Olympias’ Rollen als Agentinnen ihrer Häuser von der Klischeevorstellung einer „Einmischung“ aus Geltungssucht oder anderen Negativeigenschaften oder von entpolitisierten Charakterisierungen als informelle Bittgesuche außerhalb diplomatischer Ritualisierung abzurücken, wie sie in den antiken Quellen und in der älteren (und teilweise auch noch in der neueren) Forschung vorherrscht7.
Der literarische Topos des undiplomatischen Verhaltens und seine Übertragung auf Eurydike und Olympias
Zuschreibungen von Rüpelhaftigkeit und Taktlosigkeit im diplomatischen Umgang sind zumeist an literarische Negativbilder und gegnerische Sprachregelungen geknüpft. Dies gilt vor allem für Personen, die griechischen und römischen Autoren als „barbarisch“ oder in moralisierender Wertung als „tyrannisch“ galten8. Bei letzterem Aspekt handelt es sich somit um einen Bestandteil der literarischen Tyrannentopik, Kennzeichen einer Person, deren politische Ausübung als ungerecht, willkürlich, illegal oder illegitim dargestellt werden sollte – im Gegensatz zu den von den Autoren hochgehaltenen Normvorstellungen. Als Teil von „Barbaren“-Topik wiederum wird der Stereotyp wirksam, wenn mit der Vorstellung operiert wird, dass diplomatisches Know How, λόγος (Vernunft, Verstand), ἀρετή (Tugend), παιδεία (Erziehung, Bildung) und einen Grad der Zivilisiertheit erforderte, den griechische und römische Autoren nur der jeweils eigenen Kultur zuschrieben. Folgende Erscheinungsformen des Topos lassen sich feststellen:
- Ignoranz gegenüber ritualisierten Formen und Rollenerwartungen des diplomatischen Umgangs9,
- Verschlagenheit und Meineidigkeit in Verhandlungen (verstärkt Personen aus dem antiken Nahen Osten zugeschrieben)10,
- Ungebührlichkeit und Rüpelhaftigkeit gegenüber auswärtigen politischen AkteurInnen und den eigenen Führungsriegen11,
- Verfassen von unhöflichen offiziellen Briefen12.
Da die makedonische Monarchie wie erwähnt von griechischen und römischen Autoren häufig als „barbarisch“ oder „tyrannisch“ empfunden oder zumindest geschildert wurde13, findet sich der Topos auch bei Berichten über diplomatische Aktivitäten ihrer Mitglieder14.
Doch nicht nur die männlichen Vertreter des Hauses konnten in diplomatischer Tätigkeit sichtbar werden, sondern auch gelegentlich einzelne Argeadinnen. Aufgrund des Clancharakters der makedonischen βασιλεία (Herrschaft) unter den Argeaden konnte jedes Mitglied das Haus repräsentieren und seine Interessen vertreten, auch die Mütter, Schwestern, Ehefrauen oder Töchter der Herrscher15. Makedonische royal women vertraten als pars pro toto die Interessen ihrer Familie. Individuelle Vertreterinnen in argeadischer (und auch in hellenistischer Zeit) traten, je nach politischer Situation und den Auswirkungen auf ihre Handlungsräume, nicht nur im Bereich von Dynastie- und Heiratspolitik, Euergetismus und Kulturförderung auf, sondern auch im innen- und außenpolitischen, militärischen und diplomatischen Bereich16. Insbesondere Mütter von potentiellen Thronfolgern besaßen eigene höfische factions, eigene φίλοι (politische Freunde) und konnten sowohl als Agentinnen ihrer Geburtsfamilien als auch ihrer Nuptialfamilien für deren Interessen eintreten. Entsprechend ist das Phänomen bekannt, dass sie gelegentlich auch nach der Heirat in der Öffentlichkeit mit ihrem Patronym firmierten17. Das früheste bekannte Beispiel ist Eurydike, Frau von Amyntas III. und Mutter von Alexander II., Perdikkas III. und Philipp II. Im Kontext von Weihungen ist sie als „Tochter des Sirras“ vorgestellt18.
Da ihre Handlungsräume durch ihre Rolle als Repräsentantinnen ihrer Dynastien definiert wurden, konnten sie sich auch auf Politik, Diplomatie und Militär erstrecken19. Aus der Sicht der griechischen und römischen Autoren, die aus kultureller Fremdsicht mit wenig Verständnis darüber urteilten, handelte es sich indes um Normüberschreitungen, die zumeist in tendenziöser Weise mit persönlichen Motiven, schlechten Charaktereigenschaften und/oder der Nachlässigkeit des jeweiligen Familienoberhaupts erklärt wurden.
Makedonische Monarchie, ihr Clancharakter und die Handlungsräume ihrer weiblichen Angehörigen erschienen nicht-makedonischen Autoren demnach häufig als Gegenbild zu ihren eigenen politischen Normvorstellungen, somit als „tyrannisch“ und „barbarisch“. Infolgedessen prägte der Topos des undiplomatischen Verhaltens auch die – ohnehin kargen und verstreuten – Erwähnungen von diplomatischen Aktivitäten von Argeadinnen20. Folgende Erscheinungsformen lassen sich anhand der Beispiele von Eurydike beziehungsweise Olympias fassen und werden im Folgenden besprochen:
- Nichteinhaltung von ritualisierten Formen bei einer diplomatischen Verhandlung,
- Verschlagenheit im Kontext einer weiblichen „bedchamber-Diplomatie“ (Verführungskünste statt politischer Argumente) als angebliches Primat weiblicher diplomatischer Aktivität,
- Ungebührlichkeit und Rüpelhaftigkeit gegenüber auswärtigen politischen AkteurInnen und den eigenen Führungsriegen im Zuge einer angeblich unangemessenen „Einmischung“ in politische Angelegenheiten21,
- Unkontrolliertheit und Unhöflichkeit beim Verfassen brieflicher Korrespondenz.
Der erste Punkt, die Nichteinhaltung von ritualisierten Formen bei einer diplomatischen Verhandlung, lässt sich bei Aischines’ – indes durchaus positiven – Erwähnung von Eurydikes Interaktion zugunsten der Thronchancen ihrer minderjährigen Söhne fassen. Aus historischer Sicht zeigt die Passage, dass sich personelle Bindungen und Netzwerke eines Argeadenherrschers auch nach dessen Tod in der Familie erhielten und durch seine Witwe weitergepflegt werden konnten22. Aischines belegt (wenngleich in dramatisierter Weise), dass Eurydike sich 368/67 v. Chr. an den professionellen athenischen strategos Iphikrates, einst Protégé ihres verstorbenen Gatten Amyntas III., wandte, um seine Unterstützung gegen den Prätendenten Pausanias zu erlangen23. Iphikrates operierte zu jener Zeit im Norden, um Amphipolis für Athen zurückzugewinnen24. Es handelt sich um einen erfolgreichen Akt diplomatischer Intervention Eurydikes. In der Verhandlungssituation habe sie gemäß Aischines an Amyntas’ enge Verbindungen zu Iphikrates im Speziellen und zu Athen im Allgemeinen als Überzeugungsmittel erinnert25. Indes schildert Aischines (vor einem athenischen Rezipientenkreis, einer Jury) die Szene nicht als diplomatische Verhandlung zwischen zwei politischen Parteien in einer ritualisierten Sphäre, sondern präsentiert Eurydike als bittflehende Mutter in „häuslicher“ Rolle. Als Iphikrates auf militärischer Mission in den Norden gekommen war, habe sich Folgendes zugetragen, das Aischines Philipp in Erinnerung gerufen habe:
ἐνταῦθα, ἔφην ἐγώ, μετεπέμψατο αὐτὸν Εὐρυδίκη ἡ μήτηρ ἡ σή, καὶ ὥς γε δὴ λέγουσιν οἱ παρόντες πάντες, Περδίκκαν μὲν τὸν ἀδελφὸν τὸν σὸν καταστήσασα εἰς τὰς χεῖρας τὰς Ἰφικράτους, σὲ δὲ εἰς τὰ γόνατα τὰ ἐκείνου θεῖσα παιδίον ὄντα, εἶπεν ὅτι ‘Ἀμύντας ὁ πατὴρ τῶν παιδίων τούτων, ὅτ᾽ ἔζη, υἱὸν ἐποιήσατό σε, τῇ δὲ Ἀθηναίων πόλει οἰκείως ἐχρήσατο, ὥστε συμβαίνει σοι καὶ ἰδίᾳ τῶν παίδων τούτων γεγενῆσθαι ἀδελφῷ, καὶ δημοσίᾳ φίλῳ ἡμῖν εἶναι’.
Dann, sagte ich, ließ deine Mutter Eurydike nach ihm schicken und, wie alle diejenigen, die dabei gewesen waren, bestätigen können, schob sie Iphikrates deinen Bruder Perdikkas in die Arme und setzte dich ihm auf die Knie – denn du warst ja noch ein kleines Kind – und sprach: „Amyntas, der Vater dieser Kinderchen, hat dich zu seinen Lebzeiten zu seinem Sohn gemacht und sich guter Beziehungen zur Stadt Athen erfreut. Deswegen können wir dich in persönlicher Hinsicht als einen Bruder dieser Jungen ansehen und in deiner Eigenschaft als Bürger als unseren Freund26.
Von einer sicherlich erfolgten Aushandlung der Bezahlung für Iphikrates und seine misthophoroi ist keine Rede. Auf welche finanziellen Mittel Eurydike dafür zurückgriff, ob sie eine eigene Art von Apanage, Einkünfte aus eigenen Ländereien etwa, dafür nutzen konnte, wie in der Forschung vermutet27, wird nicht mitgeteilt. Auch wäre von Interesse, zu wissen, wie sich Ptolemaios von Aloros positionierte. Zu jener Zeit, nach der wohl von ihm initiierten Ermordung Alexanders II., regierte er als επίτροπος (Vormund) für Eurydikes noch minderjährigen Sohn Perdikkas III. das Reich28. Wenngleich auch Ptolemaios ein Interesse daran haben musste, den Prätendenten Pausanias zu neutralisieren, konnte ihn die Verbindung von Iphikrates mit Athen in einen Interessenskonflikt bringen. Ptolemaios stand unter dem Druck der thebanischen Hegemonie. Pelopidas hatte bereits in der Vergangenheit persönlich in Makedonien interveniert29. Aischines lässt durchblicken, dass Ptolemaios sich gegen die Bemühungen Athens um Amphipolis gestellt habe, sicherlich in jenem zeitpolitischen Kontext im Interesse der Thebaner, die keinen athenischen Machtzuwachs wollten30.
Obwohl es sich angesichts der geschilderten politischen Hintergründe und zeithistorischen Verflechtungen um eine Verhandlung handelte, die in vielfacher Weise höchstes diplomatisches Fingerspitzengefühl erforderte und Eurydike offenbar als äußerst geschickte Diplomatin und findige Agentin ihres Hauses zeigte, die familiäre Netzwerke zu nutzen wusste, ist die Darstellung simplifiziert. Aischines fokussiert zwar auf Eurydike als Frau beziehungsweise Witwe und Mutter. Die diplomatische Verhandlung wird ihrer ritualisierten, protokollarischen Natur aber entkleidet und Eurydike primär als besorgte Mutter geschildert. Sie schiebt dem Verhandlungspartner unprotokollarisch ihre Kinder als Argument in die Arme. Es handelt sich um eine bewusste Stilisierung, die von der Wahrheit abwich. Erstens waren Eurydikes Söhne keine kleinen Kinder mehr, die auf dem Schoß saßen, sondern Teenager. Zweitens befand sich Philipp in jener Zeit wohl gar nicht am Begegnungsort in Makedonien, sondern als Geisel in Theben31.
Aischines schildert Eurydikes Interaktion zwar nicht negativ als unzulässige Einmischung32, charakterisiert sie aber auch nicht als ritualisierten, diplomatisch-politischen Akt oder als Verhandlung auf finanzieller Basis mit einem professionellen Strategen. Bei ihm ist es das Bittflehen einer besorgten Mutter gegenüber einer Person, die eng mit ihrem Haus verbunden ist. Cornelius Nepos betont das Bittflehende in seiner kurzen Erwähnung mit Fokus auf Iphikrates noch deutlicher: In seiner Version ist Eurydike mit den zwei Söhnen zu Iphikrates ins Feldlager geflohen (confugit). Der athenische Stratege erscheint als Retter der beiden, von Verhandlungen und Finanzierung ist keine Rede33.
De facto gilt es, sich von dieser bei Aischines und Nepos vorgegebenen Sicht zu lösen und Eurydikes Handlung als diplomatisch-politischen Akt zu bewerten, der vermutlich in ritualisierten Formen verlief und eine geschäftliche Transaktion – das Engagement des Strategen und seines Heers sowie dessen Bezahlung – nach sich zog.
Der zweite Punkt, Verschlagenheit im Kontext einer weiblichen „bedchamber-Diplomatie“, findet sich bei Trogus-Justin. In dem chronologisch wirren und faktisch unzuverlässigen Abriss über Eurydikes Aktivitäten bezüglich der Nachfolgepolitik im argeadischen Haus wird der Topos des undiplomatischen Verhaltens in höchst plakativer Weise auf sie angewandt. Laut Trogus-Justin habe Eurydike angeblich aus purer Wollust ihrem Schwiegersohn und Liebhaber die Herrschaft verschaffen wollen. Dies habe sie durch den versuchten Mord an ihrem Gatten Amyntas und die gelungene Tötung ihrer Söhne Alexander II. und Perdikkas III. erreichen wollen. Damit habe sie bei Philipp II., ihrem letzten überlebenden Sohn, Furcht und Grauen ausgelöst34.
Die Skandalgeschichte ist voll von logischen Brüchen, historischen Fehlern und chronologischen Irrtümern. Zudem widerspricht sie Eurydikes ehrenvoller Stellung unter Philipps Herrschaft, in der sie in der Repräsentation weiterhin präsent war35. Vielmehr ist die Episode charakteristisch für den Topos, wonach royal women generell vor allem in der Form von intriganter „bedchamber-Diplomatie“ glänzten, die zumeist noch fatale Effekte für ihr Haus hatte36. Implizit sind die Konnotationen von einem Wirken hinter den Kulissen und rein persönlichen Motiven; politische Hintergründe werden ausgeblendet. In moralisierender Hinsicht ist auch der jeweilige Mann angeprangert, der sich solchen Einflüssen beugt. Diese Wertung verstellt den Blick für die erweiterten Handlungsräume einer Herrschergattin, die sich aus der Nähe zum Monarchen als rangkonstituierendes Merkmal und dem Zugang zu ihm ergaben.
Während die antiken literarischen Quellen diese „bedchamber-Diplomatie“ primär mit einer Kombination aus Verführungskünsten, Wollust, Herrsch- und Geltungssucht assoziierten, bedeutete es de facto auch Möglichkeiten der politischen Teilhabe, dynastischen Interaktion und Rangkonstitution und -erhaltung. Doch der Topos erweist sich als (ver-)formende Überlieferungsschicht, die jene Aspekte überdeckt. Es spricht für sich, dass Herrschernähe und Zugänglichkeit bei engsten männlichen Vertrauten eines Monarchen, Mitgliedern seines inner circle, selten als „bedchamber-Diplomatie“ ausgelegt werden. Bei politischen Akteurinnen indes ist es häufig der Fall37.
Der dritte Aspekt, Ungebührlichkeit und Rüpelhaftigkeit im Zuge einer angeblich unangemessenen „Einmischung“ in politische Angelegenheiten, lässt sich anhand der Berichte über Olympias in der Regierungszeit Alexanders fassen. In seiner kriegsbedingten Abwesenheit vertrat sie die argeadischen Interessen in Europa. Unterstützt wurde sie von ihrer Tochter Kleopatra, die nach dem Tod ihres Mannes, dem Molosser Alexander I., vermutlich die Regentschaft in Epeiros für ihren unmündigen Sohn Neoptolemos übernahm38. Alexanders zwei weibliche Gewährsleute mögen die Kontrollinstanz zu Antipatros als offiziellem Statthalter gebildet haben, damit er nicht zu eigenmächtig wurde39. Alexander versorgte sie mit Teilen seiner persischen Kriegsbeute, so dass sie durch Stiftungen und Schenkungen argeadische Wohltätigkeit zeigen konnten, besonders in Griechenland, um Antipatros’ gute Vernetzung auszugleichen40.
Indes wird Olympias’ Interaktion von den antiken Autoren nicht als legitime Ausübung von Politik durch eine Agentin ihres Hauses im Interesse Alexanders bewertet, sondern als ungehörige, nicht stattgemäße Einmischung. Sie ist als zänkische und herrschsüchtige Nervensäge geschildert, die sich unbefugt und äußerst undiplomatisch in Antipatros’ Angelegenheiten eingemischt und Unfrieden gestiftet habe41. Dagegen wird Antipatros’ Klageführung gegen sie bei Alexander – die auch von einer wenig kooperativen Haltung ihr gegenüber zeugt – von den antiken Autoren mit einem gewissen Verständnis geschildert und nicht als ungebührlich dargestellt. In diesem Fall wird deutlich mit zweierlei Maß gemessen; es entsteht der (sicherlich irrige) Eindruck, dass Antipatros legitim gehandelt und Olympias sich ungebeten eingemischt habe. Hintergrund mag sein, wie Elizabeth Carney vermutet, dass sie im Gegensatz zu Antipatros nicht zu einem offiziellen Amt bestellt worden war, sondern im Rahmen ihrer dynastischen Zugehörigkeit agierte42.
Der vierte und letzte Punkt, Unkontrolliertheit und Unhöflichkeit beim Verfassen brieflicher Korrespondenz, scheint Spuren in den literarischen Berichten über Olympias in der Regierungszeit ihres Sohns hinterlassen zu haben.
Vorauszuschicken ist, dass literarisch überlieferte Briefe die Forschung vor eine spezifische Problematik stellen: die Frage nach Authentizität und Formung, Kontext, Tendenz sowie nach offizieller oder privater Natur43. Es soll nicht argumentiert werden, dass jeder literarisch überlieferte rüde Brief einer Person, die als „barbarisch“ oder „tyrannisch“ konnotiert ist, als Negativkonstruktion der Autoren anzusehen ist. Von Fall zu Fall mag es authentische Brieffragmente gegeben haben, die eine genuin schroffe Haltung wiedergab und als Einschüchterungsmittel gedient haben mag. Das soll nicht in Abrede gestellt werden.
Worauf aber hingewiesen werden soll, ist die auffällig häufige Wiederkehr des Motivs des unhöflichen Briefs in antiker Literatur gerade bei Personen, die als „barbarisch“ oder „tyrannisch“ in ihrem Benehmen galten. Auch wenn dies vereinzelt kein Konstrukt gewesen sein mochte, war es nichtsdestotrotz als literarisches Stilmittel der Negativcharakterisierung existent. Dahinter steckten praktische Begebenheiten: Da Briefe das zentrale Kommunikationsmittel waren, gehörte die Korrespondenz zu den alltäglichen Pflichten eines antiken Machthabers. Gerade dieser Umstand bot offenbar einen glaubwürdigen Hintergrund, um durch die Behauptung, jemand schriebe rüpelhaft-undiplomatische Briefe, Kritik an der Person und ihrem Führungsstil zu üben und ihr literarisches Porträt zu schwärzen. Erneut, wie auch bei dem Motiv des unangemessenen Verhaltens bei Verhandlungen, wird ein Stück des politischen Alltags instrumentalisiert, um in überspitzter Form ein Gegenbild zur normativen Erwartung zu entwerfen.
Olympias tritt in den Quellen als rüde Verfasserin von persönlichen und offiziellen Briefen auf – wobei angesichts ihrer Rolle als Repräsentantin ihrer Dynastie die Trennlinie zwischen „persönlich“ und „offiziell“, selbst wenn sie an ihren Sohn schrieb, schwer zu ziehen ist.
So wird berichtet, Olympias habe Antipatros brieflich verleumdet44. Laut Arrian beschuldigten sich Antipatros und Olympias gegenseitig in ihren Schreiben an Alexander. Antipatros habe sich beschwert über „τὴν αὐθάδειάν τε τῆς Ὀλυμπιάδος καὶ ὀξύτητα καὶ πολυπραγμοσύνην, ἥκιστα δὴ τῇ Ἀλεξάνδρου μητρὶ εὐσχήμονα“ (Olympias’ Anmaßung, ihre Bösartigkeit und ihre Einmischung in alle Dinge, wie es Alexanders Mutter kaum zustand)45. Olympias wiederum habe Antipatros angeschwärzt, in subversiver Weise nach höheren Würden zu streben und vergessen zu haben, wer ihn in sein Amt eingesetzt habe. Griechischen Missverständnissen von Olympias’ Handlungsräumen und ihrer Rolle als Bewahrerin argeadischer Interessen ist zudem das Gerücht geschuldet, Alexander wäre von dem Verhalten seiner Mutter genervt gewesen46. Zugleich steht diese Behauptung im Widerspruch zu dem anderen, ebenfalls bei Arrian überlieferten Gerücht, dass Olympias’ Hetzbriefe gegen Antipatros Alexander dazu bewogen hätten, den bewährten Politiker von seiner Position in Europa abzuberufen und durch seinen Vertrauensmann Krateros zu ersetzen47.
Alexanders wichtigen Offizier Hephaistion soll Olympias angeblich aus Eifersucht auf seine Vertrauensstellung bei ihrem Sohn brieflich scharf kritisiert und sogar bedroht haben. Diodor zufolge habe Hephaistion ihr nicht minder vorwurfsvoll und unhöflich zurückgeschrieben. Der Schlusssatz habe gelautet: „Καὶ πρὸς ἡμᾶς παύου διαβαλλομένη καὶ μὴ χαλέπαινε μηδὲ ἀπείλει. εἰ δὲ μή, μετρίως ἡμῖν μελήσει“ (Und uns gegenüber hör auf, Verleumdungen zu verbreiten, Übelwollendes zu sagen und zu drohen. Wenn (du) aber nicht (damit aufhörst), dann kümmert uns das nur mäßig)48. Die Problematik der umstrittenen Historizität der von den Alexanderhistoriographen überlieferten Briefe wird deutlich. Auch wenn es eine Streitfrage bleiben muss, inwieweit es sich um retrospektiv ausgestaltete Konstrukte handelt, fällt auf, dass beide grob unhöflich agieren. Angesichts der Existenz des Topos des rüden Briefs mag dies zur Skepsis mahnen.
Ein besonders komplexes Problem stellt die Behauptung von Hypereides in einer Gerichtsrede um 330-328 v. Chr. dar, Olympias habe grob unhöfliche, anmaßende Briefe an den athenischen demos geschrieben. Der Hintergrund war, dass die Athener wegen einer Weihung Gesandte nach Dodona geschickt hatten. Offenbar war dies über den Olympias’ Kopf hinweg geschehen, obwohl sie zu der Zeit die politische Aufsicht über Molossien ausübte:
ὑμῖν Ὀλυμπιὰς ἐγκλήματα πεποίηται περὶ τὰ ἐν Δωδώνῃ οὐ δίκαια [...]. ὑμῖν γὰρ ὁ Ζεὺς ὁ Δωδωναῖος προσέταξεν ἐν τῇ μαντείᾳ τὸ ἄγαλμα τῆς Διώνης ἐπικοσμῆσαι [...]. ὑπὲρ τούτων ὑμῖν τὰ ἐγκλήματα ἦλθε παρ᾽ Ὀλυμπιάδος ἐν ταῖς ἐπιστολαῖς, ὡς ἡ χώρα εἴη ἡ Μολοττία αὑτῆς, ἐν ᾗ τὸ ἱερόν ἐστιν: οὔκουν προσήκειν ἡμᾶς τῶν ἐκεῖ οὐδὲ ἓν κινεῖν.
Olympias hat sich darüber beschwert, was in Dodona geschehen ist; ungerechte Beschwerden [...]. Zeus von Dodona befahl euch durch das Orakel, die Statue der Dione zu schmücken [...]. Diese Maßnahmen brachten euch Olympias’ Beschwerden ein, die in ihren Briefen schrieb, dass das Gebiet von Molossien, wo der Tempel steht, ihr Land sei und wir deswegen nicht das Recht hätten, uns in irgendetwas dort einzumischen49.
Es stellen sich folgende Fragen: Inwieweit riss Hypereides etwas aus dem Zusammenhang? Wie umfangreich war die Korrespondenz, die Olympias tatsächlich mit den Athenern in dieser Angelegenheit oder auch in anderen schon geführt hatte? Hatte die athenische Haltung ihr Anlass gegeben, im Laufe der Korrespondenz rigider aufzutreten, um ihren Standpunkt klar zu stellen? War Unhöflichkeit somit ein diplomatisches Mittel, um sich durchzusetzen? Letzteres mag der Fall sein, doch ebenso könnte es sich um eine der im rhethorischen Genre üblichen Übertreibungen zu handeln, geformt gemäß des Topos des „barbarischen“ oder „tyrannischen“ Briefs. So ist nicht zu vergessen, dass offizielle Korrespondenz über die makedonische Hofkanzlei lief und in ritualisierten Formen gehalten war50.
Indes, selbst wenn sich Olympias im Laufe ihrer brieflichen Kontakte mit den Athenern genötigt gefühlt hätte, energischer auf ihre Position zu beharren und Unhöflichkeit als diplomatische Taktik zu nutzen, fällt doch auf, wie Hypereides dies einsetzt. In dieser Gerichtsrede versucht er, seinen Mandanten Euxenippos gegen die Vorwürfe einer Kollaboration mit den Makedonen zu verteidigen. Dieser Argumentationslinie entsprechend stellt er Olympias als eine Repräsentantin des unterdrückerischen Übels der makedonischen Fremdherrschaft dar51. Um dies zu untermauern, dient ihm der Topos des unhöflichen Briefs eines „tyrannischen“ oder „barbarischen“ Verfassenden, dessen Kenntnis er offenbar bei der athenischen Jury voraussetzte.
Dies bedeutet für die Analyse der Quellenpassage: Es ist schwierig, zu ermessen, wie authentisch Hypereides Olympias’ Worte zitierte, doch seine Auslegung erfolgte im Rahmen des Topos des rüden Briefs und charakterisierte sie negativ. Wie verankert die topische Vorstellungen von rüden Briefen von „Tyrannen“ oder „Barbaren“ bei Hypereides‘ athenischen Zeitgenossen waren, belegen Passagen in den Reden seiner Kollegen Aischines und Demosthenes aus dem Gesandtschaftsprozess (343 v. Chr.)52. So behauptete Demosthenes, Aischines habe als Philipps bestochener Agent für ihn den Brief mit dem Friedensentwurf zur Vorlage für den athenischen δῆμος (Volk) verfasst. Als Beweis führte Demosthenes an, dass der Brief so καλός (schön) und φιλανθρώπως (höflich, freundlich) geschrieben sei53. Einem „Barbaren“ und „Tyrannen“ wie Philipp wurde offenbar nicht zugetraut, einen so formvollendeten Brief selbst geschrieben zu haben. Aischines bestätigt diese Vermutung, indem er sich über das Klischee lustig macht54. Allerdings verweist er auf die Anstellung erfahrener griechischer Diplomaten wie Python von Byzantion in Philipps Diensten, die wüssten, wie man offizielle Korrespondenz verfasst55.
Vor dem geschilderten Hintergrund scheint wichtig, sich von der antiken Deutungsebene zu lösen und Olympias’ Briefe jenseits des Topos und der Vorstellung von einer „Einmischung“ als diplomatischen Akt und Ausdruck ihrer Rolle als Interessensvertreterin ihres Hauses zu sehen.
Fazit
Als integraler Bestandteil von Politik, Allianzbildung, Krieg und Frieden bot der Bereich der Diplomatie antiken Autoren Raum und Potential, um auf „Fehlverhalten“ eines politischen Akteurs hinzuweisen. Gerade die ritualisierte Sphäre und die Rollenerwartungen an die Beteiligten im diplomatischen Bereich spielte Autoren dabei in die Hand. Somit wurde ein Stück politischer Alltag instrumentalisiert, um ein Gegenbild zur normativen Erwartung zu gestalten. Das undiplomatische Verhalten, insbesondere von Personen, die in ihrem Handeln als „tyrannisch“ wahrgenommen wurden oder als „barbarisch“ galten, entwickelte sich zu einem literarischen Stilmittel der Negativporträtierung. Verstöße gegen ein als normativ empfundenes Verhalten in Verhandlungen, Meineide und Vertragsbrüche, schlechte Behandlung von Gesandten oder unverschämte Briefe sind Erscheinungsformen dieses Topos. Da Argeadinnen Vertreterinnen einer argeadischen Monarchie waren, die oftmals von griechischen und römischen Autoren als „barbarisch“ oder „tyrannisch“ stilisiert wurde, waren auch Berichte über die diplomatische Aktivität einzelner Frauen wie Eurydike und Olympias von dem Topos betroffen. Erschwerend kam hinzu, dass ihre erweiterten Handlungsräume von griechischen und römischen Autoren häufig als Normverstöße missverstanden wurden. Entsprechend verformend fielen die Berichte über ihre diplomatischen Interventionen aus: im Sinne von entpolitisierten Abwertungen als unziemliche Einmischung, Störfeuer, persönliche Verhaltensauffälligkeiten oder als intrigante „bedchamber-Diplomatie“. Selbst wenn es sich nicht um eine Negativdarstellung handelt wie bei Aischines’ Schilderung von Eurydikes’ Verhandlungen mit Iphikrates, liegt der Fokus auf ihr als bittflehender, besorgter Mutter, die jenseits diplomatischer Etikette agiert.
Die Identifizierung des Topos des undiplomatischen Verhaltens gemahnt zu einer noch größeren Skepsis bei entsprechenden Quellenberichten über Personen, die nicht dem Kulturkreis der jeweiligen Autoren angehörten, ambivalent bis negativ porträtiert wurden und/oder Handlungsräume in Anspruch nahmen, die ihnen gemäß der Sicht der Quellen nicht zukamen. Gerade die Vorstellung von einer angemaßten „Einmischung“ von Argeadinnen (oder anderen royal women) in diplomatische Angelegenheiten, die teilweise noch in der modernen Forschung kursiert, sollte ad acta gelegt werden. Eurydike und Olympias handelten und verhandelten in der Ausübung ihrer politischen Rolle, die sie als Interessensvertreterinnen ihres Hauses innehatten. Entsprechend sollten sie auch als politische Akteurinnen wahrgenommen und beurteilt werden.