Seit den 1970er Jahren haben frauengeschichtliche Studien für die antiken Gesellschaften nachgewiesen, dass fehlende Sichtbarkeit von Frauen in den Quellenmaterialien weder mit Bedeutungslosigkeit noch mit Abwesenheit gleichgesetzt werden kann; die weibliche Gegenwärtigkeit in den politischen, religiösen und ökonomischen Praktiken der antiken Kulturen ist heute nicht mehr zu bestreiten. Kaum untersucht jedoch ist die Bedeutung der Arbeit von Frauen in den Institutionen und Prozessen der Produktion von Wissen über das mediterrane, vorderasiatische und nord-europäische Altertum1. Nicht anders als alle akademischen Disziplinen präsentierten sich auch die Altertumswissenschaften bis weit über die Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus als eine reine «Männersache»: Die klassisch-philologischen, archäologischen und althistorischen Lehrstühle an den Universitäten der ganzen Welt waren eine Männerdomäne, in die nur sehr vereinzelt Frauen eindringen konnten2. Doch was die frauengeschichtlichen Studien für die antiken Gesellschaften nachweisen konnten, gilt genauso für die Welt der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts: Auch wenn Frauen in der männlich dominierten Wissenschaft nicht auf den ersten Blick gesehen werden, ist ihre Arbeit von grundlegender Bedeutung. Dabei denken wir nicht an die – durch eine kontributorische Frauenforschung schlüssig belegte – entscheidende Funktion der Ehefrauen grosser männlicher Gelehrter, die ihren Männern «den Rücken freihielten» für die gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten3, sondern wir interessieren uns für Wissenschaftlerinnen, die mit ihrer Arbeit direkt in diese Wissensproduktion involviert waren, und für die geschlechtsspezifisch bestimmten Handlungsspielräume, die sie nutzen konnten.
In unserem Beitrag möchten wir eine dieser Frauen – stellvertretend für viele – herausgreifen: Juliette Emma Ernst, die im eigentlichen Wortsinn eine Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts war – sie wurde im Jahre 1900 in Algier geboren und ist 2001 in ihrem 102. Lebensjahr in einem Altersheim in Lutry bei Lausanne gestorben4. Während rund 60 Jahren war Juliette Ernst für die Herausgabe der Année Philologique (APh) verantwortlich, und während 25 Jahren nahm sie als Generalsekretärin der 1948 unter der Ägide der UNESCO gegründeten Fédération Internationale des Associations d’Études Classiques (FIEC) eine Schlüsselposition der internationalen Altertumswissenschaften ein. In diesen jahrzehntelang wahrgenommenen Aufgaben deuten sich die Umrisse des Lebens einer Person an, die für die Altertumswissenschaften im 20. Jahrhundert von grundlegender Bedeutung war.
Eigentlich müsste man erwarten, dass eine Person, die im Zentrum einer Institution wie der APh wie auch des Neuaufbaus einer internationalen altertumswissenschaftlichen République des Lettres nach dem Zweiten Weltkrieg stand, in zahlreichen Nachrufen eine Würdigung erfuhr und einen sorgfältig archivierten Nachlass hinterliess. Diese Erwartungen wurden in unseren Recherchen enttäuscht: In sechs Zeitschriften sind im Jahr 2001 kurze Nachrufe erschienen, wobei drei dieser Nekrologe François Paschoud zum Autor haben, der 1974 ihre Nachfolge als Generalsekretär der FIEC angetreten hatte5. Unsere Suche nach einem Privatnachlass Ernst und insbesondere nach der Korrespondenz, die aus Tausenden von Briefen bestanden haben muss, verlief weitgehend erfolglos: Die Institutionen, in deren Rahmen Juliette Ernst arbeitete – wie die École Normale Supérieure oder die Bibliothèque de la Sorbonne –, verfügen nicht über einen «Fonds Ernst», mit den zwei kleinen Ausnahmen der Personalakten ihrer Tätigkeit in Basel von 1942 bis 1948, die im Universitätsarchiv zugänglich sind, und der Dokumente zu ihren Anstellungen im CNRS, die in den Archives nationales deponiert wurden6. Im Übrigen sucht man auch im Biographischen Lexikon, das 2012 als DNP-Supplement-Band 67 erschienen ist, vergeblich einen Artikel «Ernst, Juliette», während in den zwei Spalten zu Jules Marouzeau dessen Verdienst als Begründer der APh hervorgehoben wird8.
Die Diskrepanz zwischen der vermeintlichen Evidenz der zentralen Position dieser Frau in den internationalen Altertumswissenschaften und ihrer nur marginalen Anerkennung verlangt nach Erklärung. Kann ein genauerer Blick auf die Tätigkeiten von Ernst, auf deren Stellenwert bei den männlichen Kollegen und auf ihre Selbsteinschätzung Aufschluss geben über die unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Handlungsspielräume, die die Altertumswissenschaften im 20. Jahrhundert für Frauen und Männer bereithielten? Ist diese Diskrepanz ein möglicher Ansatzpunkt, um ihre unterschiedlichen Funktionen in der Wissenschaftspraxis und zugleich eine Hierarchie zwischen Wissenschafts-organisation und Wissenschafts-produktion zu erkennen? Spiegeln sich in dieser Hierarchie Geschlechtsstereotype, wie sie die europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts prägten? Diesen Fragen will ein Forschungsprojekt9 nachgehen, dessen erste Schritte und methodologische Herausforderungen der vorliegende Beitrag zur Diskussion stellt. Das Projekt geht von einer Einzelperson aus und ist deshalb, auf methodologischer Ebene, auch darauf ausgelegt, kritisch die Möglichkeiten und den Nutzen biographischer Ansätze für eine Wissenschaftsgeschichte zu prüfen, die die Kategorie Geschlecht einbezieht.
Grundlage für die hier vorgelegten Überlegungen ist im Wesentlichen die Auswertung der öffentlich zugänglichen Dokumente, d. h. der Nekrologe, der «Avant-propos» der APh – und darunter insbesondere des von Ernst in der 50. Ausgabe der APh unter dem Titel «L’Année Philologique, notre aventure» veröffentlichten Textes, einer Art «égo-histoire» vor dem Begriff10 – sowie von Interviews mit Zeitgenossen (François Paschoud, Walter Rüegg). Gestützt auf diese Materialien möchten wir die genannten Problemfelder zunächst mit einer schlichten Zusammenstellung der Daten des Lebenslaufs darlegen (1.), der eine genauere Erörterung der wissenschaftlichen Tätigkeiten von Ernst und ihrer Fremd- und Selbsteinschätzung – soweit die vorliegenden Zeugnisse dies zulassen – folgen wird (2.); abschliessend finden sich unsere Fragen und Thesen zur Biographik als Methode der Wissenschaftsgeschichte und zur geschlechtsspezifischen Bestimmung von Handlungsräumen in den Altertumswissenschaften des 20. Jahrhunderts formuliert (3.).
1. Von Algier über Lausanne nach Paris: der Lauf eines Lebens
Wenn wir die Stationen des Lebens von Juliette Ernst erfassen wollen, nähern wir uns von aussen dem «chronologischen Skelett» und damit nur dem einen Aspekt der Existenz, die Jean-Louis Passeron als die Spannung zwischen «la chaire et la squelette du temps» einer Biographie umschreibt11. Wir verzichten erst einmal auf den Versuch, Einblick zu nehmen in die Gedanken und Überlegungen der Protagonistin und damit ihre Gründe für Entscheidungen zu erkennen; mit dieser vorläufigen Suspendierung der Frage nach Motivationen und Bedingungen können wir den Weg ihres Lebens12 erkunden, ohne der Illusion des post hoc propter hoc13 zu erliegen.
Juliette Ernst war die Tochter eines Schweizer Ehepaars, das kurz nach der Hochzeit im Jahre 1897 nach Algier ausgewandert war; ihr Vater, Édouard Ernst (1857-1941), verheiratet mit Marguerite (genannt: Jeanne) Muller (1868-1948), hatte als Buchhalter und Teilhaber eine führende Stellung in der Handelsfirma Lucien Borgeaud & Cie. im französischen Departement Algerien inne. 1913 zog er sich aus dem Geschäft zurück und kehrte mit seiner Frau und den vier Töchtern14 nach Lausanne zurück, wo die Familie eine Villa, «Le Télemly» genannt, bauen lässt15. Juliette Ernst besuchte die École Normale Supérieure de jeunes filles und erwarb dort 1919 ihr baccalauréat. Im Wintersemester des gleichen Jahres immatrikulierte sie sich an der Faculté des Lettres der Universität Lausanne16. Prägender akademischer Lehrer für Ernst wurde der Latinist Frank Olivier, der aus einer alteingesessenen Waadtländer Familie stammte, in Berlin bei Hermann Diels studiert hatte und – wie François Paschoud vermerkt – mit seiner sehr deutsch geprägten Philologie seinen Kollegen in Lausanne überlegen und entsprechend unbeliebt war17.
1923 schloss Ernst ihr Studium mit der «Licence» ab, «avec les félicitations du Jury», d. h. mit höchstem Prädikat; sie unterrichtete danach Französisch an der École Normale Supérieure de jeunes filles in Yverdon von 1923 bis 1925. Für das Studienjahr 1925/26 schrieb sie sich in Paris als Studentin an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) ein und belegte Lehrveranstaltungen bei Desrousseaux, Ernout, Marouzeau, Meillet und Samaran; sie wurde Mitglied der Société des Études Latines und nahm an den Sitzungen der Gesellschaft teil18. Wie in der EPHE üblich, erhielt sie nach einem Jahr Vollstudium den Status einer «élève titulaire», ab 1926 in den Bereichen «sciences philologiques et historique», für 1927 in den «sciences religieuses». Auf diese Vertiefung ihres Studiums folgten verschiedene Erwerbstätigkeiten: Im Schuljahr 1927/28 unterrichtete Ernst Französisch wiederum an der gleichen Schule in Yverdon wie schon drei Jahre zuvor; sie hielt sich im Frühjahr 1928 für drei Monate in Oxford auf, wo sie am St Hugh’s College Englisch-Französische Übersetzung lehrte, und im Folgejahr 1928/29 arbeitete sie als mittlere Kaderangestellte und Protokollführerin im Personalbüro des Völkerbundes in Genf19. 1929 war sie zurück in Paris und Angestellte im Bureau des Renseignements du Foyer international am Bd. St.-Michel.
Inmitten dieser sehr vielfältigen und internationalen Tätigkeiten scheint aber die Zusammenarbeit mit dem Latinisten Marouzeau für Ernst eine nachhaltige Bedeutung zu gewinnen: Als Professor an der EPHE lernte er in seinen Lehrveranstaltungen die aussergewöhnlich polyglotte Studentin kennen – nebst Französisch beherrschte sie auch die deutsche, englische und italienische Sprache in Wort und Schrift –, und er integrierte sie gleich in die Gruppe der Studentinnen, denen er Aufgaben für die APh übertrug. Seit Mitte der 1920er Jahre plante Marouzeau dieses Projekt einer internationalen Bibliographie der Altertumswissenschaften, die ersten zwei Bände der APh erschienen 1928. Wir werden auf die Arbeit von Ernst für die APh zurückkommen; halten wir hier zunächst fest, dass der Name «Mlle J. Ernst» erstmals im «Avant-propos» zu Band 3, der 1929 erschien, in Marouzeaus Verdankungen der Mitarbeiterinnen genannt wird20. Rund fünf Jahre später findet sich im Band 8 der Hinweis, dass die redaktionelle Arbeit von nun an exklusiv von Ernst geleistet werde21.
In ihrem Rückblick aus Anlass des 50. Bandes der APh stellt Ernst, aus der Distanz von mehr als fünf Jahrzehnten, diese Arbeit für die APh auf eine Weise dar, die suggeriert, sie habe damit zu Beginn der 1930er Jahre ihre Lebensaufgabe gefunden. Sie weist darauf hin, die Grösse der Herausforderung habe sie manche Bildungslücken erkennen lassen, doch diese zu schliessen habe sie als vorrangiges Ziel betrachtet und deshalb die APh als ein «Abenteuer» aufgefasst22. Ab 1933 hielt sie sich für ihre Arbeit an der APh regelmässig ein bis zwei Monate in Rom auf, machte sich mit dem Besuch der Lehrveranstaltungen von Giuseppe Lugli mit der Archäologie vertraut, arbeitete in den Bibliotheken des Palazzo Farnese und des Istituto Germanico, und sie erwähnt, dass «Mrs. Strong»23 sie in ihrem Salon «avec le monde cosmopolite des ‹classicistes›» bekannt gemacht habe. 1936 verbrachte sie fünf Monate in den USA mit Stationen an der Universität Harvard in Cambridge und im Bryn Mawr College in Philadelphia, sie unternahm 1937 eine Reise zu den Grabungsstätten in Griechenland, arbeitete 1938 im British Museum in London24. Für ihre Verdienste verlieh ihr die Universität Lausanne 1939, im Zeitpunkt des Rücktritts von Frank Olivier, die Ehrendoktorwürde – es ist zu vermuten, dass Ernst mit 39 Jahren wohl eine der jüngsten doctores honoris causa ist, zumindest gemessen an den Gewohnheiten der Schweizer Universitäten für die Vergabe von Ehrendoktoraten.
Wenn auch Juliette Ernst in ihrer Rückschau die Arbeit an der APh seit Beginn der 1930er Jahre als Zentrum ihres Lebens rekonstruiert, so geht im Unterschied dazu aus zeitnäheren Aufzeichnungen und Dokumenten hervor, dass ihre materielle Situation prekär war: Von Marouzeau wurde sie für ihre Arbeit im Stücklohn, d. h. mit einer Entschädigung pro APh-Eintrag, bezahlt; bis 1948 ging sie immer parallel zu ihrer Tätigkeit Erwerbsarbeiten nach, sei das, wie erwähnt, im Foyer international, sei es durch Übernahme von Übersetzungen, z. B. für den Lausanner Gräzisten Bonnard, durch privaten Französischunterricht für Ausländer in Paris, durch Lehrtätigkeit im Rahmen von «Cours de vacances» oder als stellvertretende Lektorin an der Universität Lausanne. Zwischendurch konnte Marouzeau sie offenbar auch zeitlich begrenzt als wissenschaftliche Hilfskraft durch den CNRS entschädigen lassen. Klar geht aus den uns aktuell vorliegenden Dokumenten hervor, dass Ernst bis zu ihrer stabileren Anstellung durch den CNRS im Jahre 1947 regelmässig zwischen Paris und Lausanne pendelte, und dies nicht zuletzt auch aus dem Grund, sich aus verschiedenen Quellen ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ihre immer aufrechterhaltenen Verbindungen in die Schweiz nutzte sie beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Die bibliographische Arbeit an Bibliotheken im internationalen Rahmen wurde durch den Krieg unterbrochen – nicht ohne Stolz hält Ernst jedoch fest: «la guerre [...] ne réussit pas, en dépit des prévisions pessimistes de certains, à mettre fin à mon activité»25. Als sich 1940 die Niederlage Frankreichs abzeichnete, zog sie sich nach Basel zurück, wo sie zum einen ihren Lebensunterhalt als Französischlehrerin am Mädchengymnasium und an der Volkshochschule sowie als Lektorin für Französisch an der Universität verdiente26 und zum andern die bibliographische Arbeit weiterführte; sie erwähnt, dass die Universitätsbibliothek Basel auch während des Kriegs regelmässig die meisten internationalen Zeitschriften erhielt, sodass sie die Bände 14 (1941), 15 (1943) und 16 (1946) der APh herausbringen konnte27.
1947 war Ernst zurück in Paris, wo Marouzeau beim CNRS eine befristete, später mehrfach verlängerte Anstellung erreichen konnte28. Ihre gewohnte Reisetätigkeit nahm sie wieder auf, vor allem die regelmässigen Aufenthalte in Rom, wo ihr die École Française de Rome, die British School, das Istituto Svizzero und insbesondere die American Academy Aufenthalte «compatibles avec mes modestes moyens» erlaubten. Die internationalen Beziehungen, die Ernst während ihrer Tätigkeit für die APh aufgebaut und auch während der Kriegszeiten weiter gepflegt hatte, prädestinierten sie gewissermassen dazu, in den Bemühungen der Nachkriegszeit, die seit dem Ersten Weltkrieg beeinträchtigte und im Zweiten Weltkrieg zerstörte République des Lettres und ihren internationalen Austausch neu zu gründen, eine bedeutende Rolle zu spielen. Am ersten Nachkriegskongress der Association Guillaume Budé, der 1948 in Grenoble stattfand, präsentierte sie einen Bericht unter dem Titel «La coopération intellectuelle. Le problème des revues et de la documentation», worin sie einen Überblick über alle existierenden altertumswissenschaftlichen Zeitschriften – von den USA bis Ägypten, von Malta bis in die UdSSR – und kritische Überlegungen zum Zugang zu diesen Publikationen vorlegte29. Nicht zuletzt formulierte sie ihren Bericht auch als Anregung für die Schaffung einer geisteswissenschaftlichen Dokumentationsstelle durch die UNESCO und als Aufgabe für die FIEC, deren Gründung nur wenige Tage nach dem Budé-Kongress vorgesehen war. Denn unter der Schirmherrschaft der 1945 gegründeten UNESCO wurden schon bald nach dem Krieg Gespräche geführt über die Gründung einer internationalen Vereinigung der Altertumswissenschaften30. Am 28./29. September fand im Pariser UNESCO-Gebäude die Gründungsversammlung der FIEC statt31. Juliette Ernst wurde zur «Secrétaire générale adjointe» gewählt; der Archäologe Charles Dugas, der als Professor und Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles Lettres die offenbar erwünschte institutionelle Position innehatte, wurde zum Generalsekretär be-stimmt. Dugas’ Gesundheitszustand hinderte ihn an der Teilnahme an der Generalversammlung von 1950, die von Ernst geleitet wurde, und zwangen ihn zum Rücktritt vor der Versammlung von 1953; so wurde Ernst für 1953 und 1954 zur «Secrétaire générale par intérim», zwischen 1954 und 1974 spielte sie schliesslich in der FIEC ihre führende Rolle ausgestattet mit dem Titel der «Secrétaire générale».
Ernst übte ihre Tätigkeit sowohl für die APh wie auch für die FIEC von ihrer Privatwohnung im XIV. Arrondissement in Paris aus – genauso wie auch Marouzeau seine Privatadresse als offizielle Redaktionsanschrift publizierte, fand sich ab 1951 jene von Ernst im Impressum der Zeitschrift32. Sie arbeitete dort, bis sie mit 92 Jahren aus gesundheitlichen Gründen die Redaktion der APh in andere Hände geben musste; zum letzten Mal signiert sie im Band 61, der 1992 erschien, den «Avant-propos» mit Angabe des Datums «Juillet 1992». Zu Beginn der 1990er Jahre zog sie sich in ein Altersheim in Lutry, in der Umgebung von Lausanne, zurück; ihre zwei Nichten, Töchter ihrer jüngsten Schwester, waren ihr beim Umzug behilflich und räumten 1993 die Pariser Wohnung. Sie fanden dort, wie wir von ihnen erfahren haben, keine Sammlung der immensen Korrespondenz aus den vielen Jahrzehnten der bibliographischen Arbeit in einem internationalen Netzwerk: Offenbar hatte Ernst die Gewohnheit, Briefe – in denen es wohl meist um den Austausch von bibliographischen Informationen und um organisatorische Angelegenheiten ging – nur so lange aufzubewahren, wie sie für einen bestimmten Zweck gebraucht wurden, und sie danach dem Papierkorb anzuvertrauen.
2. Wissenschaftliche Tätigkeiten, Fremd- und Selbsteinschätzung
Dieses chronologische «Skelett» des Ablaufs eines Lebens ist nun mit dem «Fleisch» der greifbaren Inhalte zu ergänzen, die erlauben, die Handlungsräume zu erkunden, die in den Altertumswissenschaften einer Philologin offen standen, und die Frage aufzuwerfen, inwiefern diese ge-schlechtsspezifisch bestimmt waren. Wir wenden uns deshalb mit einem analytischeren Blick den beiden Gebieten zu, die das Leben von Juliette Ernst geprägt haben und die durch ihre Arbeit geprägt wurden, der APh und der FIEC, um anschliessend die Möglichkeiten zu diskutieren, ihr Selbstverständnis in diesen Tätigkeiten zu erfassen.
2.1 «Ma fidèle collaboratrice»: Juliette Ernst und die Année Philologique
In den Jahren 1927 und 1928 hatte Marouzeau zwei Bände unter dem Titel Dix années de bibliographie classique. Bibliographie critique et analytique de l’antiquité gréco-latine, 1914-1924 publiziert und eröffnete damit die «Collection de bibliographie» der Société française de bibliographie classique, der er als Präsident vorstand. Im «Avant-propos» zum ersten Band der APh, der 1928 erschien, stellt Marouzeau die neue bibliographische Zeitschrift als Fortsetzung dieser «Collection» dar, die nun aber regelmässig und auf gesicherter Basis erscheinen solle. Mit dem Verweis darauf, dass zur Präsentation der Bibliographie die Regeln beachtet würden, die von der bibliographischen Kommission des Institut international de coopération intellectuel (IICI) aufgestellt worden seien33, gibt er den Anspruch zu erkennen, ein für die internationale Wissenschaft relevantes Werk zu schaffen. Diplomatisch erwähnt Marouzeau, wie hilfreich ihm aktuell erscheinende Bibliographien gewesen seien, «en particulier la Bibliotheca philologica classica du Bursians Jahresbericht», die ihm «des confrontations et des compléments pour l’année 1924» geliefert hätte34; das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein französisches Produkt geschaffen wurde, das sich durchaus als Konkurrenz zur deutschen Bibliotheca philologica classica verstand35.
Die APh nahm sich nicht nur vor, disziplinenübergreifend weltweit die altertumswissenschaftlichen Publikationen zu erfassen, sondern wollte darüber hinaus mit den «résumés» mehr sein als eine reine Aufzählung von Titeln – Ziel der APh war es in den Worten von Ernst, «d’offrir au public international – et en tout premier lieu aux savants français – un ouvrage plus humain qu’une simple énumération de titres»36. Wie konnte ein solches bibliographisches Grossunternehmen funktionieren? Interessante Hinweise sind den Titelseiten und den Danksagungen in den Vorworten zu entnehmen. Im ersten Band wird im Titel Marouzeau mit seinen akademischen Titeln als Herausgeber genannt37; im «Avant-propos» verdankt er drei Hörerinnen an der EPHE und seine Gattin: «Mlle A. Guillemin a bien voulu relire une épreuve de ce volume ; Mlles L. Nitti, G. Wittelsbach et ma femme m’ont aidé dans la composition de l’index ; je leur exprime ici toute la gratitude que méritent ces tâches ingrates»38. Im zweiten Band wird die Ehefrau nicht mehr erwähnt; Marouzeau verdankt «la collaboration de Mlles A. Guillemin, G. Wittelsbach, L. Nitti, A. Freté, qui ont assuré une partie du travail de dépouillement», zudem nennt er «[...] mon collègue M. J. Carcopino, qui a bien voulu assumer la tâche ingrate de relire une épreuve de ce volume»39; Jérôme Carcopino wird auch für die folgenden Ausgaben die Fahnenkorrektur leisten und damit der einzige namentlich angeführte männliche Mitarbeiter sein. In Band 3, der 1929 erschien, findet sich der Dank an «Mlles A. Guillemin, J. Ernst, L. Nitti, A. Freté, qui ont assuré une partie du travail de dépouillement»; hier taucht also erstmals der Name von Ernst auf40. Schon im folgenden Jahr vermerkt Marouzeau: «La plus grande partie du travail de rédaction a été assurée cette année par Mlle J. Ernst, de l’Université de Lausanne»41, während aber nach wie vor auch Guillemin, Freté und Nitti für die Mitarbeit verdankt werden42. In diesem Sinn scheint sich die Übernahme der Arbeit durch Ernst in den folgenden Jahren zu bestätigen: Im Band 5 schreibt Marouzeau, «la rédaction de ce volume est due, pour la plus grande part, à Mlle J. Ernst, ma fidèle collaboratrice», während für den Index die Hilfe eines «groupe de mes élèves à la Sorbonne: Mlles L. Roosenburg, I. Lot, P. Laurent, K. Campbell-Brown» Erwähnung findet43; im sechsten Band von 1932 wird Ernst als «ma principale collaboratrice» bezeichnet, die durch die Konsultation der schweizerischen und französischen Bibliotheken die Zahl der ausgewerteten Zeitschriften erhöht habe («Mlles P. Laurent et L. Nitti» erscheinen noch als Hilfskräfte für den Index)44. Die gleiche Bezeichnung der «principale collaboratrice» findet sich im Folgeband von 1933, worin Marouzeau speziell auf ihre Ergänzungen im archäologischen Bereich auch für die früheren Jahre verweist; hier wie für die folgenden Bände ist nur noch L. Nitti für den Index genannt45. Schliesslich findet die Entwicklung einen vorläufigen Abschluss mit dem achten Band, der 1934 erscheint, in dessen «Avant-propos» sich der Hinweis findet: «Mlle J. Ernst, sur qui repose désormais exclusivement la tâche de la rédaction de cette Revue [...]»46. Auf der Titelseite der APh finden diese Änderungen auch Ausdruck: Schon ab Band 7 von 1933 ist zu lesen: «L’Année Philologique. Bibliographie critique et analytique de l’antiquité gréco-latine, publiée sous la direction de J. Marouzeau, Professeur à la Faculté des Lettres de Paris, Directeur d’Études à l’École des Hautes Études, par Mlle Juliette Ernst, de l’Université de Lausanne». So blieb der Titel bis zum Tod von Marouzeau im Jahre 1964; danach nahm sich die Titelei wie folgt aus: «L’Année Philologique. Bibliographie critique et analytique de l’antiquité gréco-latine, (fondée par J. Marouzeau), publiée par Juliette Ernst, Docteur ès lettres»47. Als «Directrice de l’Année philologique» zeichnete Ernst dann jedes Vorwort bis zur APh 61, 1992.
Wenn man diese einfachen Informationen, die aus den kleinen Veränderungen der Formulierung des Titels und aus den Verdankungen der «Avant-propos» erschlossen werden können, überblickt, ergeben sich daraus Anhaltspunkte, die Einblick geben in die Arbeitsorganisation einer wissenschaftlichen Unternehmung wie der APh: Ein bestandener Latinist in der etablierten akademischen Position eines Professors an der Faculté des Lettres de Paris, d. h. an der Sorbonne, der zugleich «Directeur d’études» der EPHE, Gründer und Präsident der Société française de bibliographie classique war und der 1923 die Société des Études Latines konstituiert hatte und darin die Funktion des «Secrétaire-administrateur» ausübte, ergreift die Initiative, zunächst eine Reihe bibliographischer Monographien und danach eine auf Dauer und Regelmässigkeit gestellte bibliographische Zeitschrift zu lancieren. Der Erfolg dieser Zeitschrift wird auch zu einer zusätzlichen Stärkung der akademischen Position von Marouzeau beitragen, denn die APh zählte mit zu den Leistungen, für die er 1945 in die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres kooptiert wurde48. Und sein Name wurde mit der Zeitschrift identifiziert: In den deutschsprachigen Altertumswissenschaften wurde von der APh lange Zeit als «dem Marouzeau» gesprochen49. Doch die oben genannten Informationen zeigen deutlich, dass die eigentliche Arbeit der Auswertung der Zeitschriften, Monographien und Sammelwerke, der Erstellung der bibliographischen Einträge und der Redaktion jedes Jahrgangs der Zeitschrift von Anfang an nicht durch den Gründer und Initiator geleistet wurde: Marouzeau stützte sich dafür ausschliesslich auf seine Studentinnen und Hörerinnen an der EPHE ab (ausser seiner Gattin für die erste Ausgabe und Carcopino für die Fahnenkorrektur) und sehr bald exklusiv auf Ernst. Letztlich war – mit Ausnahme der «Direction» und der wissenschaftlichen Garantie der Fahnenlektüre (ab 1938 Cousin und Bayet) – die Herstellung der APh seit den Anfängen fest in der Hand von Frauen. Diese Feststellungen werden uns dazu führen, in unseren abschliessenden Thesen die Frage aufzugreifen, ob in der Gründung von Zeitschriften zum einen, in der bibliographischen und redaktionellen Arbeit zum anderen vielleicht je geschlechtsspezifische Handlungsräume der altertumswissenschaftlichen Produktion zu sehen sind.
Ernst leistete seit den 1930er Jahren die redaktionelle Arbeit für die APh allein50, doch zu Beginn der 1950er Jahre erwies sich, dass diese Aufgabe nicht mehr von einer einzelnen Person zu leisten war. Der CNRS stellte zwischen 1952 und 1957 einen Mitarbeiter zur Verfügung und delegierte Forscherinnen und Forscher des CNRS «au titre des travaux d’intérêt collectif». Ab den 1960er Jahren konstituierte sich, wie Ernst feststellt, «peu à peu une équipe d’une qualité exceptionnelle» aus MitarbeiterInnen, die als CNRS-Angestellte für einen Teil ihrer Arbeitszeit der APh freigestellt wurden oder die freiwillig und unbezahlt arbeiteten. Unter ihnen sollten sich Marianne Bammate(‑Duvoisin), Ingrid Robbe-Grillet(‑Herb), Pierre Paul Corsetti und Helena Junod(‑Ammerbaum) als jahrzehntelange WeggefährtInnen erweisen. Ernst gelang es, mit dieser – immer sehr klein gebliebenen – Redaktionsgruppe die Arbeit auf mehr als nur zwei Schultern zu verteilen, und doch konnte auch diese Erweiterung in den 1960er Jahren der ständig wachsenden Zahl von Publikationen nicht mehr genügen. Da der CNRS keine personelle Erweiterung zusichern konnte, wandte sich Ernst an ihre internationalen Kontaktpersonen, die ihrerseits ihre nationalen Gesellschaften und Forschungsinstitutionen mobilisieren konnten. So entstanden zwischen 1965 und 1978 insgesamt sechs sprachregionale Zweigstellen der APh in den USA, in Deutschland, Italien, Spanien, der UdSSR und der Schweiz51. Jeweils eine Person war für die Auswertung der Publikationen der entsprechenden Sprachregion verantwortlich und lieferte ihre Titel und Kurzzusammenfassungen an Ernst in Paris; halten wir fest, dass es im Zeitpunkt der Gründung der Zweigstellen in Heidelberg (Helga Gärtner), Genua (G. Solimano Astengo), Madrid (M. A. Somolinos) und Lausanne (Brigitte Coutaz-Lamy) Frauen waren, die diese Aufgabe übernahmen, während nur in Chapel Hill und für die Auswertung der russischen Publikationen Männer genannt werden52.
Mit der Etablierung der sprachregionalen Redaktionen war es Ernst bis Ende der 1970er Jahre gelungen, für die APh eine institutionelle Arbeitsorganisation zu schaffen, die in ihrer Grundstruktur bis zum heutigen Tag Bestand haben sollte. Aus der in den 1920er Jahren von Marouzeau konzipierten französischen Zeitschrift hat sie eine fest auf internationaler Ebene verankerte Unternehmung entwickelt. Wichtig dafür war, dass auch die Herausgeberschaft auf eine internationale Grundlage gestellt wurde; Ernst schreibt, Marouzeau habe nach dem Zweiten Weltkrieg «pris l’heureuse initiative de muer la Société française de Bibliographie classique, responsable de l’APh, en Société internationale de Bibliographie classique (SIBC)»53, und die SIBC wurde gleich bei der Gründung der FIEC deren Mitglied, um bei der UNESCO um Förderungsgelder nachsuchen zu können. Es wäre ein eigenes Thema, die komplexen Entscheidungs- und Finanzierungsstrukturen zwischen einerseits der internationalen Unternehmung der APh und ihrer Herausgeberin, der SIBC, und andererseits den vielfältigen Geldgebern zu untersuchen.
Ernsts Arbeit für die APh führte sie dazu, ein unvergleichlich breites Netz internationaler Beziehungen in der europäischen und amerikanischen akademischen Welt aufzubauen: «Il m’est agréable de rappeler ici l’aide chaleureuse que me prodiguèrent les ‹grands› de l’époque», schreibt Ernst in ihrem Rückblick auf die Anfänge ihrer Tätigkeit, und sie zählt eine ganze Reihe von Namen auf, von den Direktoren der École Française de Rome, Émile Mâle und Jérôme Carcopino, bis zu ihren Kontaktpersonen während der Reise in die USA im Jahre 1936: «E. K. Rand, Stanley Pease, A. D. Nock à Harvard, R. G. Kent à Philadelphie, Lily Ross Taylor à Bryn Mawr, sans parler de ceux de ma génération, dont certains – hélas ! – disparus, comme C. Bradford Welles et James Hutton»54. Klar wird aus diesen Bemerkungen, dass Ernst sich offenbar in einer Position sah, die auf die «Hilfe» der «Grossen» angewiesen war, und dass sie sich selbst keineswegs zu diesen «Grossen» zählte – jedoch darauf hinweisen konnte, dass die Qualität und der Nutzen ihrer Arbeit gerade von diesen führenden Forscherinnen und Forschern anerkannt wurde. Diese Anerkennung machte ihre eigene Position als – bibliographische – Vermittlerin zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen und Kontinenten aus. Der Aufbau und die Pflege eines so breiten Netzwerks55 wird ein weiterer Aspekt sein, den wir im Hinblick auf geschlechtsspezifische Bedingungen wissenschaftlicher Praktiken aufgreifen werden; es erlaubte ihr nicht nur, die erwähnte internationale Struktur zu schaffen, auf deren Grundlage Jahr für Jahr der nächste Band der APh herausgegeben werden konnte, sondern prädestinierte sie auch dazu, in der internationalen Neuorganisation der Altertumswissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle zu spielen.
2.2 Die Organisationsentwicklerin: FIEC
Laut offizieller Akten spielte Ernst bei der Konstitutierung der FIEC eine marginale Rolle. Wir möchten im knapp bemessenen Rahmen dieses Beitrags, der nicht eine (noch zu schreibende56) Geschichte der FIEC sein will, ihren effektiven Tätigkeiten und Handlungen nachgehen, um ihre Funktion innerhalb dieser institutionellen Strukturen zu erfassen. Stützt man sich auf das Archiv der FIEC, so liegen die Vorbereitungen zu ihrer Gründung im Dunkel, denn die Dokumentation dieses Archivs setzt erst mit der Gründungsversammlung vom 28./29. September 1948 ein57. Doch eine Bemerkung von Ernst in ihrem Rückblick auf die Entwicklung der APh von 1981 kann uns auf eine andere Spur bringen; beiläufig erwähnt sie, die FIEC sei «à l’instigation de l’Association G. Budé» gegründet worden58. Tatsächlich schliesst Alphonse Dain, der Generalsekretär der Association Guillaume Budé, seinen Jahresbericht 1947/48, den er der Generalversammlung vom 20. Juni 1948 vorlegte, mit den folgenden Worten:
Bientôt, ce ne sera plus seulement sur le plan national que nous travaillerons : déjà nous devons entrevoir le jour où naîtra une Fédération internationale des Associations d’Études classiques.
Depuis longtemps déjà, les tenants de nombreuses disciplines – scientifiques ou humaines – étaient arrivés à s’unir sur le plan international. Rien de semblable n’avait été tenté dans le domaine des sciences relatives à l’antiquité. Sans doute était-il arrivé qu’en étudiant la pensée grecque ou latine nous nous sentions naturellement citoyens du monde. Et cela était déjà vrai des gens de la Renaissance. Pourtant, les conditions nouvelles de vie, la multiplication des recherches, leur caractère de plus en plus complexe, la difficulté qu’il y a aujourd’hui à être informé, non moins qu’à diffuser le résultat des recherches, étaient autant de raisons impérieuses de se réunir et de s’aider59.
Divers savants européens ont conçu le projet de ce rapprochement international. L’Association Guillaume Budé, en raison de son rayonnement en quelque sorte mondial, a paru l’organisme le plus approprié pour servir de point de départ de ce nouveau mouvement. En sa séance du 29 février, le Conseil d’administration a mandaté M. M. P. Mazon, J. Marouzeau et Ch. Dugas pour lancer un premier appel à divers savants étrangers. À la suite de cette démarche vient de se constituer un Conseil international d’initiative restreint. Ce dernier a fait appel aux différentes Associations d’études classiques, en leur demandant de désigner des délégués qui se réuniront à l’automne prochain, à Paris, siège de l’Unesco. C’est en effet sous le patronage de cet organisme international que se réunira le Comité constitutif de la Fédération. Que l’Association Guillaume Budé ait été au point de départ de ce mouvement, qu’elle devienne comme le noyau cristallisateur autour duquel s’agrégera cette importante Fédération, c’est ce dont nous pouvons être justement fiers ; c’est dire quelle est l’importance de notre rayonnement ; c’est dire aussi quels devoirs nous incombent, plus impérieux encore qu’autrefois60.
Auch wenn der Textsorte des Jahresberichts – worin sich Präsidenten und Sekretäre üblicherweise bemühen, die Verdienste der eigenen Gesellschaft besonders hervorzuheben – Rechnung zu tragen ist, weist doch die Zusammensetzung der Gründungsversammlung der FIEC vom 28./29. September 1948 darauf hin, dass die Association Guillaume Budé eine führende Rolle spielte: Von den 10 anwesenden Repräsentanten der 15 Gründungsgesellschaften, die Paschoud in seinem Rückblick anlässlich des 50. Jahrestags der FIEC-Gründung verzeichnet61, sind vier Mitglieder des Conseil d’administration der Association Guillaume Budé62. Darüber hinaus nahmen mit Beobachterstatus63 Denis van Berchem (für die Schweizerische Vereinigung für Altertumswissenschaft und den Schweizerischen Altphilologenverband) und Juliette Ernst (für den Groupe romand des études latines64), drei Vertreter der Association Internationale d’ Archéologie Classique sowie zwei Repräsentanten der UNESCO an der konstituierenden Versammlung der FIEC teil.
An der Gründungssitzung wurde der vom Initiativkomitee vorgelegte Statutenentwurf genehmigt und als bis heute weitgehend gleich gebliebene Zielsetzung die Unterstützung aller Studien über die antiken «Zivilisationen» Griechenlands und Roms festgelegt65; in der Situation von 1948 ging es um die Wiederherstellung der internationalen Verbindungen in den Altertumswissenschaften, die schon seit dem Ersten Weltkrieg unterbrochen waren und im Zweiten Weltkrieg auf einem Tiefpunkt angelangt waren, und ein wichtiges Anliegen war auch, die zahl-reichen (vor allem deutschen) Zeitschriften, die kriegsbedingt eingestellt worden waren, wieder zum Leben zu erwecken66. Als Leitungsgremium wurden der Vertreter der dänischen Gesellschaften, Carsten Høg, als Präsident, Jules Marouzeau und Ronald Syme als Vizepräsidenten, Jerzy Manteuffel und Frank Brown als Beisitzer bestimmt; wie oben erwähnt, wählte die Versammlung Charles Dugas zum Sekretär und Juliette Ernst zur Vizesekretärin. Dass die Gründungsversammlung der FIEC auch die «problèmes de la documentation» als Punkt der Tagesordnung behandelte – nicht zuletzt im Hinblick auf die finanzielle Unterstützung verschiedener Projekte, insbesondere der APh –, lässt sich als direkte Antwort auf die Anliegen und Forderungen verstehen, die von Ernst in ihrem Bericht, den sie vier Tage zuvor dem vierten Kongress der Association Guillaume Budé vorgelegt hatte67, explizit herausgestellt wurden. In einem weiteren Punkt griffen die FIEC-Gründer diesen Bericht auf: Ernst wurde beauftragt, den Status der altertumswissenschaftlichen Editionsprojekte, der Publikationsorgane und der nationalen Vereinigungen zu prüfen und darüber einen Bericht zu verfassen; sie hat diese Aufgabe auf internationaler Ebene gleich angegangen, wie z. B. ihr Briefwechsel mit Bruno Snell zwischen März und Juni 1949 bezeugt, wobei es auch um die Möglichkeit finanzieller Unterstützung für Zeitschriften (wie etwa Philologus oder die Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft) durch die FIEC ging68.
Ernst übernahm, wie erwähnt, von Beginn an die wesentlichen Arbeiten des Sekretariats und wurde nach dem Rücktritt von Dugas 1954 offiziell zur Generalsekretärin gewählt. In ihrem Rückblick von 1981 betont sie, wie wichtig ihre Funktion innerhalb der FIEC für die APh war: «Je ne saurais trop insister sur l’importance que cette fonction qui m’était attribuée revêtit pour l’APh. La FIEC m’ouvrait toutes les portes, me faisait participer non seulement à ses Assemblées générales, à ses propres Congrès, mais aussi à nombre d’autres réunions nationales et internationales, où j’étais invitée à exposer les problèmes de la documentation»69. Die Aussage macht klar, dass das vorrangige Anliegen von Ernst in der «documentation» bestand, im internationalen Austausch der Publikationen und Forschungsergebnisse zwischen allen Disziplinen der Altertumswissenschaften. Ihr Engagement für die FIEC war durch diese Zielsetzung motiviert, es brachte sie aber über das bibliographische Anliegen hinaus dazu, die zahlreichen nationalen Gesellschaften in ihrer Person international zu verknüpfen: Sie war es, die die FIEC beispielsweise beim Treffen der deutschen Altertumswissenschaftler in Hinterzarten vom 29. August bis 2. September 1949 repräsentierte, aus der die Mommsen-Gesellschaft hervorgehen sollte70; in den 1950er Jahren setzte sie sich insbesondere für die Verbindungen und den Austausch mit den altertumswissenschaftlichen Gesellschaften der osteuropäischen Staaten ein71. Über Ernst, die auch auf dieser Ebene der internationalen Beziehungen eine enge Zusammenarbeit mit Marouzeau pflegte, scheinen die wesentlichen Verbindungen zwischen den Institutionen der FIEC, der SIBC und des CIPSH gelaufen zu sein72, und sie war später, von 1964 bis 1976, auch die Delegierte der FIEC in der Internationalen Thesaurus-Kommission, die 1949 zur Wiederaufnahme des Projekts des Thesaurus Linguae Latinae gegründet worden war73. Innerhalb des Büros der FIEC erwies sich die Wahl von Marcel Durry als «Trésorier» – er wurde bei der Schaffung dieses Amtes 1950 gewählt und übte es bis 1969 aus, bevor er von 1969 bis 1974 als Präsident der FIEC vorstand – als glückliche Fügung aufgrund der persönlichen Beziehungen mit Ernst: Zusammen prägten sie während der ersten 25 Jahre die FIEC von diesen entscheidenden Posten des Rechnungsführers und der Generalsekretärin aus74.
Versuchen wir, aufgrund dieser uns gegenwärtig vorliegenden Fakten eine Einschätzung der Stellung und Funktion von Ernst vorzunehmen, lässt sich eine ähnliche Situation und Entwicklung feststellen wie für ihre Arbeit in der Redaktion der APh: Wurde sie dort von Marouzeau aufgrund ihrer Sprachkompetenzen beigezogen und verschaffte sich durch ihren Arbeitseinsatz innert weniger Jahre die Position der alleinigen Redaktorin, so sind es auch nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Fähigkeiten und Kenntnisse der weltweiten Altertumswissenschaften, die sie zu einer zentralen Figur für die Institutionalisierung der internationalen Kontakte im Rahmen der UNESCO werden lassen. War es in der APh der Tod von Marouzeau, der ihr nach 34 Jahren den Titel der «Directrice» verschaffte, so ist es der krankheitsbedingte Rücktritt von Dugas, der für sie nach fünf Jahren die Anerkennung als Generalsekretärin der FIEC erlaubte. Auch bei der Gründung der FIEC spielte Marouzeau eine zentrale Rolle – und er setzte seine vertraute und erprobte Mitarbeiterin ein, die offensichtlich die Grundlagenarbeit leistete, aber zunächst in einer subalternen Position blieb. Auch wenn die untergeordnete hierarchische Stellung nichts über effektiv ausgeübte Bestimmungsmacht aussagt, ist es doch bezeichnend, dass Ernst nicht wie Durry, der seine Karriere als Rechnungsführer der FIEC mit der Präsidentschaft abschloss, den Aufstieg von der Generalsekretärin zur Präsidentin erreichte, sondern nach ihrem altersbedingten Rücktritt 1974 zur «Secrétaire générale honoraire» gewählt wurde.
2.3 Kompetenzen und ihre Wertschätzung
Die Arbeit von Juliette Ernst erhielt Anerkennung: Wir haben im ersten Abschnitt den Ehrendoktortitel benannt, der ihr 1939 von der Universität Lausanne verliehen wurde – sie selbst erinnert an die laudatio in ihrem Rückblick von 198175; sie erhielt zweifach zusammen mit Marouzeau den «Prix Brunet» der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres76, wurde 1958 in die Légion d’honneur aufgenommen77 und schliesslich 1988 mit der «Médaille d’argent du CNRS» ausgezeichnet (was mancherorts mit Erstaunen registriert wurde, weil diese Auszeichnung üblicherweise jungen Forscherinnen und Forschern zwischen 35 und 40 verliehen wird)78. Wir haben gesehen, dass sie von Marouzeau als «fidèle collaboratrice» bezeichnet wurde, Ernout sich öffentlich für das «dévouement et [...] la compétence de Mlle Ernst» und ihren «travail surhumain» erkenntlich zeigte und Rüegg sie als «idealen Sonderfall» bezeichnete79. In den Nekrologen hebt Paschoud ihren «rôle de premier plan dans deux in-stitutions de caractère œcuménique, englobant les sciences de l’antiquité dans leur totalité» hervor und die Tatsache, dass sie alle kannte, die von irgendeiner Bedeutung waren in den Altertumswissenschaften der globalen Welt zwischen Westeuropa, der damaligen kommunistischen Welt und den Ländern Amerikas und Asiens80; er vermerkt auch, dass sie diese Welt der Altertumswissenschaften unverblümt zu charakterisieren wusste, «avec saveur, humour, lucidité, et parfois une absence de détours inattendue de la part d’une personne née à l’âge victorien, et qui vivait au sein de l’hypocrisie académique»81.
Wenn zum einen die Loyalität der Mitarbeiterin und die selbstlose Hingabe an ihre Aufgaben gelobt82, zum andern die zentrale Rolle in der internationalen Institutionalisierung und die weltweite Vernetzung herausgestellt wird, so steht diese Anerkennung in klarem Kontrast zu den Leistungen, die für ihre männlichen Kollegen in Nachrufen hervorgehoben werden: Bei einem Marouzeau, einem Durry oder auch einem Mazon, um eine zufällige Auswahl zu treffen83, werden Werke und wissenschaftliche Leistungen mit ihrem bleibenden Wert genannt. Doch überblickt man die eigenen Reflexionen von Ernst über ihre Arbeit, so scheint diese Diskrepanz durchaus in Übereinstimmung mit ihrer Selbsteinschätzung zu stehen. Sie sieht sich in der Abhängigkeit ihrer männlichen und etablierten Mentoren und stört sich nicht daran – für ihre Einführung in die Redaktion der APh stellt sie in einer bemerkens-werten Gleichzeitigkeit von Selbstbewusstsein und Anerkennung von Abhängigkeit fest:
J. Marouzeau eut le grand mérite, dès 1929, de me faire confiance en me chargeant de la plus grande partie, puis de la totalité des dépouillements afférents à l’APh. Grâce à son libéralisme, et aussi à l’amitié que me témoignait sa femme, j’ai eu le privilège d’organiser mon travail à ma guise, de prendre toutes initiatives utiles et de procéder selon les méthodes que je jugeais bonnes. Je leur dois à tous deux une vive reconnaissance. Certes J. Marouzeau m’avait eue comme élève à l’École pratique des Hautes Études et avait pu apprécier la solide et traditionnelle préparation philologique reçue de ce grand maître que fut Frank Olivier, disciple de Hermann Diels. Il savait aussi que l’allemand, grâce à des études universitaires faites en Suisse, et l’anglais, grâce à un séjour dans un collège oxonien, m’étaient familiers. Mais que de lacunes dans mon érudition, en face de l’immensité de la tâche ! Ma préoccupation fut d’y remédier et, pour ce faire, de concevoir l’APh comme une aventure84.
Hier erweist Ernst erstens ihrem akademischen Lehrer Olivier die Ehre, der ihr in Lausanne die «solide und traditionelle» philologische Grundausbildung vermittelt habe (wobei sie gewissermassen als akademischen Grossvater gleich noch Diels einführt), als besonderes Verdienst von Marouzeau erwähnt sie nicht etwa, dass sie von ihm etwas gelernt habe, sondern sein Vertrauen, das ihr – auch aufgrund der Freundschaft seiner Frau – erlaubt habe, frei und nach ihrem Gutdünken die Arbeit anzupacken: Die Anerkennung der akademischen Autoritäten verbindet sie rhetorisch geschickt mit der Nennung sowohl ihrer eigenen philologischen wie auch Sprachkompetenzen und mit der klaren Feststellung, eigenständig die Aufgabe der bibliographischen Arbeit an der APh gestaltet zu haben. Und sie benennt explizit ihre «Bildungslücken», nicht ohne gleichzeitig zu vermerken, sie habe diese zu stopfen gewusst und dies als «Abenteuer» betrachtet.
Ernst hat ihr akademisches Selbstbewusstsein in der Kompetenz als Bibliographin ausgebildet; sie hatte nicht die Ambition, zu den «Grossen» der Altertumswissenschaften zu gehören, sie verstand sich jedoch als Spezialistin der Bibliographie, die ihnen auf Augenhöhe begegnen konnte. Explizit formuliert sie in ihrem Rückblick auf 50 Jahre APh:
J’aimerais [...] contribuer, par mon témoignage, à détruire un préjugé qui veut que la bibliographie, travail considéré comme mécanique et impersonnel, soit le fait de gens de médiocre intelligence, incapables de réussir dans l’enseignement ou la recherche. La bibliographie est d’abord une école de conscience et d’exactitude. Combien de savants auteurs [...] auraient intérêt à se soumettre à cette discipline85 !
Schon gute 20 Jahre vor dieser Feststellung betitelt Ernst ihren Beitrag zur Festschrift aus Anlass des 70. Geburtstags von Marouzeau mit «La bibliographie, servante de l’humanisme» und unterstellt «à mon Maître», er habe der Bibliographie unter allen Hilfswissenschaften der Altertumskunde den Platz der bescheidensten, aber nicht am wenigsten nützlichen Dienerin des Humanismus zugewiesen86. Eine Identifikation mit einer solchen dienenden Funktion hindert Ernst aber nicht daran, in ihrem Beitrag sieben klare Anweisungen an die Autoren wissenschaftlicher Texte zu formulieren: Sie sollen als Autoren eine eindeutige und gleich bleibende Namensform wählen, ihren Aufsätzen Titel geben, die klar den Inhalt erkennen lassen; sie kritisiert ephemere Zeitschriften-Neugründungen und wirft die Frage auf, weshalb denn nicht der Philologus, der Hermes und das Rheinische Museum sich zu einer gemeinsamen Zeitschrift vereinen wollen; wissenschaftliche Beiträge sollen in einer der «grandes langues de civilisation les plus répandues dans le monde savant», nämlich auf Französisch, Englisch, Deutsch oder Italienisch verfasst werden; Ernst plädiert für klare Referenzen unter Verwendung der in der APh verwendeten Siglen und scheut sich nicht, von den Autoren eine klarere Strukturierung ihrer Texte und von den Rezensenten eine präzise Angabe der bibliographischen Referenzen zu verlangen. In einem Vortrag vor der Société des Études latines von 1957 kritisiert sie «l’inflation dont souffre la production dite scientifique», die insbesondere anlässlich von Jubiläen wie dem 1600. Geburtstag von Augustinus dazu führe, dass wenige wichtige Publikationen unter der Vielzahl von «travaux de seconde zone qui comportent des redites et des affirmations hasardées» untergingen87. Sie hält fest, es gebe Autoren, die «pondent leur petit œuf dans les périodiques du monde entier» und «touchent à tout, et pas toujours avec bonheur»88; manche Zeitschriften kritisiert Ernst, weil sie keine Auswahl träfen und Arbeiten publizierten, die von der Unreife oder gar der Unfähigkeit ihrer Autoren zeugten89 – und immer wieder kritisiert Ernst in ihren Publikationen scharf die Mode der Festschriften und der Publikation auch noch des kleinsten Kolloquiums, deren Beiträge oft kaum das Niveau einer Seminararbeit hätten90.
Diese kleine Auswahl aus den Publikationen von Ernst91 macht deutlich, dass ein Selbstverständnis der Bibliographin als «Dienerin des Humanismus» – falls die Übertragung der Sache auf die Person erlaubt ist – sie keineswegs daran hinderte, reichlich unverfroren ihre Meinungen zu vertreten; vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Paschoud von «guerres épiques» zwischen den zwei Hartschädeln Marouzeau und Ernst sprechen kann92. Die Frage drängt sich auf: Steht in der Sicht von Ernst einer Wissenschaft, deren akademische Dominanz sie über-haupt nicht bestreitet, eine Hilfswissenschaft gegenüber, die zwar ihre Unterordnung akzeptiert, aber dadurch keineswegs daran gehindert wird, eine genauso selbstbewusste und eigenständige Position zu behaupten? Betrachten wir die Werturteile und Ratschläge der Bibliographin, so deutet zumindest nichts daraufhin, dass sie sich nicht berechtigt fühlte, Kritik an der wissenschaftlichen Produktion zu üben und klare Anweisungen zu erteilen. Doch ist es ein Zufall, dass die Protagonisten der Wissenschaft nahezu exklusiv männlich sind, während im Bereich der Hilfswissenschaft der Bibliographie die Arbeit vorwiegend von weiblichen Akteurinnen geleistet wird?
3. Geschlechtsspezifische Bestimmung der Handlungsräume in den Altertumswissenschaften und die Biographie als Methode der Wissenschaftsgeschichte
Die Zweifel an der Zufälligkeit dieser Tatsache, die aus den hier vorgelegten ersten und vorläufigen Untersuchungen zu Juliette Ernst hervorgehen, sind eine Herausforderung, der Position dieser Frau nachzuspüren: Was zeichnete Ernst aus, das sie dazu brachte, in einem von Männern dominierten sozialen Feld so viel Einfluss zu gewinnen, dass sie letztlich ganz zentrale Stellen einnehmen konnte? Sie hatte nie eine «thèse de doctorat» vorgelegt und nie eine universitäre Position bekleidet, konnte also keinen der Leistungsausweise vorlegen, die im akademischen Feld, um mit Bourdieu zu sprechen, zur Anerkennung führen93. Nach ihrer Selbsteinschätzung zu urteilen, die wir ansatzweise oben unter 2.3 skizzierten, war das für Ernst jedoch kein Mangel und hat sie nicht daran gehindert, vollumfänglich der Tätigkeit nachzugehen, die sie als ihre Aufgabe betrachtete.
Aus dieser vermeintlich widersprüchlichen Beobachtung ergibt sich eine Hypothese, die im weiteren Verlauf der Arbeiten zu Juliette Ernst überprüft werden muss: Im akademischen Feld der Altertumswissenschaften des 20. Jahrhunderts lassen sich zwei unterschiedliche Ausprägungen von wissenschaftlichem Habitus feststellen; zum einen gibt es Akteure, die in die universitäre Laufbahn einsteigen, die Stufen von Qualifikationsarbeiten und Posten erklimmen und auf diese Weise untereinander den Wettstreit um akademisches Kapital – Titel und Autoritätspositionen – ausfechten. Zum anderen lässt sich im akademischen Feld ein Handlungsbereich ausmachen, in dem die Akteure um soziales Kapital streiten, das sie erwerben, wenn sie sich den Regeln dieses Bereichs konform verhalten: Sie akzeptieren eine subalterne Stellung in Bezug auf die «akademischen Würdenträger», zu denen sie nicht in Konkurrenz treten, mit denen sie aber nicht zuletzt aufgrund dieser unangefochtenen Unterordnung in privilegierte Beziehungen treten können, die sich bis zu breit ausgebauten Netzwerken entwickeln lassen; sie erreichen auf diese Weise höchst einflussreiche Stellungen in der Organisation der wissenschaftlichen Produktion, ohne aber akademisch anerkannte Positionen zu bekleiden. Selbst wenn die Akteure dieses subalternen Bereichs des akademischen Feldes keineswegs exklusiv weiblich sind (und auch die Akteure mit akademischem Kapital zwar überwiegend, aber im Laufe des fortschreitenden 20. Jahrhunderts nicht mehr exklusiv männlich), wird deutlich, dass diese zwei Ausprägungen des Habitus im akademischen Feld nicht geschlechtsneutral sind: Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit werden in den Altertumswissenschaften (um uns auf dieses Gebiet zu beschränken) des 20. Jahrhunderts mit akademischem Kapital und Autoritätspositionen verbunden, jene der Weiblichkeit mit sozialem Kapital und organisatorischen Leistungen94. Von den abstrakten gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit95 kann selbstverständlich nicht direkt auf das Handeln von Männern und Frauen geschlossen werden – aber die Handlungsspielräume von Frauen und Männern im akademischen Feld sind durch die Konformität mit diesen Vorstellungen ausgestaltet und durch die Hürde der Negativbeurteilung nichtkonformen Handelns begrenzt.
Diese allgemeine Hypothese kann nicht mehr sein als eine Vermutung, zu der uns der Blick auf eine einzelne Person hinführte. Und damit stellt sich die Frage, ob der gewählte biographische Ansatz überhaupt erlaubt, zu solch allgemeinen Aussagen über Handlungsspielräume von Frauen in den Altertumswissenschaften zu gelangen. Nachdem die Biographie als Methode historischer Forschung und Darstellung durch die Sozial- und Strukturgeschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ausser Gebrauch gekommen zu sein schien96, erlebte sie in den letzten drei Jahrzehnten eine eigentliche Renaissance, sowohl in Bezug auf historische Figuren wie auch für die Wissenschaftsgeschichte. Die Kritik am Ausschluss des Individuums und seines Handelns durch rein strukturalistische Sichtweisen, wie sie die Alltagsgeschichte, die oral history, die microstoria oder auch die Frauengeschichte übten, führte dazu, dass man sich auf die Biographie als Untersuchungs- und Darstellungsmethode zurückbesann, sie zugleich aber kritisch diskutierte und auf neue Grundlagen stellte97. Zu diesen Grundlagen, die für die Untersuchung von Ernst nutzbringend eingesetzt werden können, gehört sicher der mikrohistorische Ansatz der modalen Biographie98, die sich weniger für die untersuchte Person als Individuum interessiert als vielmehr dafür, inwiefern in diesem Individuum die Regeln des sozialen Feldes, zu dem es gehört, zum Ausdruck kommen. Unsere Frage nach den Handlungsspielräumen einer Frau in den Altertumswissenschaften des 20. Jahrhunderts ist auf diese Form der Untersuchung ausgerichtet – doch letztlich lassen sich modal-biographisch nur die Bedingungen erfassen, d. h. die Handlungsräume (oder: die Rahmen konformen Handelns), und nicht die Handlungsspielräume, wie wir den englischen Begriff der agency fassen möchten, im Sinne der Realisierung selbstbestimmter Handlungsmöglichkeiten durch einzelne historische Akteurinnen. Deshalb wird dieser modale Ansatz mit Selbstzeugnissen zu ergänzen sein, die im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zu den Regeln zu interpretieren sind: Wie lebt das Individuum Juliette Ernst die historische Situation99, die gesellschaftlichen Strukturen, ihre Position im akademischen Feld der Altertumswissenschaften zwischen Lausanne, Paris und den vielfältigen internationalen Verbindungen, die sie mit ihrer Tätigkeit für die APh und die FIEC knüpfte? Antworten auf diese Frage lassen Handlungsalternativen und die Entscheidungen von Ernst erfassen und damit das individuelle Handeln innerhalb der überindividuellen Bedingungen. Hilfreich dafür könnte ein vergleichender Ansatz sein, den Jacques Revel als Möglichkeit anführt, die trügerische Kontinuität und Kohärenz einer Lebensdarstellung, die schon lange als Kritik an der Textsorte Biographie geübt und von Bourdieu in die eingängige Formel der «illusion biographique» gefasst worden war, zu umgehen100: beispielsweise ein Vergleich zwischen dem Leben von Ernst und jenem ihrer drei Schwestern mit ihren ganz unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen101.
Das Projekt, dessen Problemstellung, erste Ergebnisse und methodologische Präliminarien wir in diesem Beitrag vorlegen, setzt sich zum Ziel, mit diesem polyfokalen biographischen Zugriff einen Beitrag zu leisten zur Erkenntnis eines spezifischen weiblichen Habitus im akademischen Feld der Altertumswissenschaften, ohne die Individualität von Juliette Ernst zu negieren; umgekehrt sollen ihre persönlichen Leistungen eine Würdigung erfahren, ohne die geschlechtsspezifischen Bedingtheiten eines Frauenlebens für die Altertumswissenschaft zu vernachlässigen.