Für die Untersuchung geschlechtsspezifischer Normen der römischen Gesellschaft zur Zeit Trajans sind die Texte des Geschichtsschreibers Tacitus ein höchst fruchtbarer Untersuchungsgegenstand. Doch zugleich setzt das Textmaterial der Leserin oder dem Leser eine verwirrende Widerständigkeit entgegen: Hat man sich erst einmal durch die Analyse und serielle Aufbereitung des Textes zur Erkenntnis normativer Männlichkeit und Weiblichkeit vorgekämpft, kann man nur feststellen, dass kaum eine weibliche oder männliche Figur der Erzählung eindeutig nach diesen Normen (seien sie positiv oder negativ gewertet) ausgestaltet ist. Manche Untersuchungen, die von einer deskriptiven Definition von Geschlecht ausgehen, postulierten deshalb eine Pluralität von Männlichkeiten und von Weiblichkeiten – ein Postulat, das sich konzeptuell kaum je befriedigend begründen liess. Ich setze dieser deskriptiven Auffassung in den folgenden Überlegungen ein konsequent analytisches Verständnis von Geschlecht entgegen, das zum Vorschlag führen wird, die Inszenierung der weiblichen und männlichen Figuren durch den Geschichtsschreiber als eine narrative Performanz zu erklären, die (wie vielfach übersetzt auch immer) auf die Performanz von Geschlecht von Akteurinnen und Akteuren im gesellschaftlichen Alltag verweist.
Wenn ich die deskriptive der analytischen Verwendung des Geschlechtsbegriffs gegenüberstelle, greife ich auf die Unterscheidungen zurück, mit denen Joan Scott vor einem Vierteljahrhundert Geschlecht als eine «nützliche Kategorie historischer Forschung» begründete1. Zwar ist Scott um die Jahrtausendwende kritisch auf dieses Postulat zurückgekommen2: Angesichts der inflationären Verbreitung des Begriffs gender stellte sie fest, dass das Konzept sein provozierend kritisches und politisches Potential eingebüsst hatte. Tatsächlich hatte die Gegenüberstellung von gender als ‹sozialem› und sex als ‹biologischem› Geschlecht eine Pervertierung des ursprünglichen Kampfbegriffs gegen den bis vor drei Jahrzehnten weithin dominierenden (und seit den 1990er Jahre unter der Maske biotechnischer Forschung erneut sich ausbreitenden) Biologismus bewirkt – die Opposition von sex und gender führte zur Legitimierung einer Auffassung, die Geschlechtsdifferenzen als ‹biologisch› begründet verstand in einem Verständnis von ‹Biologie›, die deren historisch-kulturelle Bedingtheit verkennt. Auf die Gefahr einer solchen Interpretation der englischen Begriffsopposition hatte Gisela Bock schon in den 1980er Jahren aufmerksam gemacht und vorgeschlagen, die Vorteile der deutschen Sprache zu nutzen und auf die englische Begrifflichkeit zu verzichten3: Ich folge diesem Vorschlag und werde deshalb nicht, wie es im deutschen Sprachraum oft üblich ist, das englische Wort gender, sondern den Begriff Geschlecht verwenden, der das englische sex und gender zugleich umfasst. Unter dieser Voraussetzung aber behaupte ich, dass Geschlecht nach wie vor nicht nur eine nützliche, sondern eine notwendige Kategorie historischer Forschung ist: als eine produktive und unverzichtbare Fragestellung4.
Grundlegend für Scotts Definition war die Forderung, Geschlecht als eine analytische Kategorie zu verwenden: Weiblichkeit und Männlichkeit dienen nicht zu einer Beschreibung von Frauen und Männern, Geschlecht, das sind vielmehr die «multiple and contradictory meanings attributed to sexual difference»5. Deshalb bilden die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit ein ‹Reservoir› von Bedeutungen, aus dem sich die handelnden Subjekte in der historischen Wirklichkeit genauso bedienen wie der Autor, der männliche und weibliche Figuren ausgestaltet. Daraus nun ergibt sich die These, die im Folgenden zur Diskussion steht: Die taciteischen Texte führen die Performanz von Geschlecht vor.
Wenn wir taciteische Texte lesen, haben wir es selbstverständlich mit narrativer Performanz zu tun: Tacitus setzt die Figuren seiner Erzählung in Szene und ordnet ihnen durch die beschriebenen Handlungen und Verhaltensweisen eine Identität im Spektrum der Geschlechtsvorstellungen zu. Obwohl Performanz in der Erzählung aufs Engste mit Sprache verbunden ist, verwende ich den Begriff in einem erweiterten Sinn, der über das rein linguistische Phänomen eines «Handelns mit Worten»6 hinausweist: Mit dem Begriff sollen Praktiken bezeichnet werden, die wir in der Geschichtserzählung zwar nur beschrieben finden, aber eine Transformation dessen sind, was Judith Butler für Handeln in der Realität feststellt: «acts, gestures, and desire produce the effect of an internal core or substance, but produce this on the surface of the body, through the play of signifying absences that suggest, but never reveal, the organizing principle of identity as a cause. Such acts, gestures, enactments, generally construed, are performative in the sense that the essence or identity that they otherwise purport to express are fabrications manufactured and sustained through corporeal signs and other discursive means. That the gendered body is performative suggests that it has no ontological status apart from the various acts which constitute its reality»7.
Der performative Akt, den ich für das Korpus der Schriften des Tacitus postuliere, schafft die Realität der Figuren der Geschichtserzählung, die sich aus Mosaiksteinen weiblich und männlich konnotierter Bedeutungen von Geschlechtsdifferenz zusammensetzen und sich zugleich mit ihrer gesellschaftlich-politischen Position und ihrem Rechtsstatus überkreuzen. Das Ergebnis ist die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten der Figuren, die in den taciteischen Werken ausgestaltet sind: Soldaten sind Männer auf andere Weise als ihr Feldherr oder ein Schauspieler, und die weibliche Identität der mit einem Senator verheirateten matrona unterscheidet sich radikal von jener der Gattin eines Handwerkers, von einer Freigelassenen oder einer Sklavin8. Und diese Differenzen haben nichts mit einer Pluralität von Männlichkeiten und Weiblichkeiten, sondern mit der unterschiedlichen performativen Umsetzung der normativen Kategorien zu tun.
Die These soll in drei Schritten begründet und überprüft werden: Zunächst werde ich den Tod der zwei Kaiser und Feldherren Otho und Vitellius einander gegenüberstellen und den beiden Feldherren das Verhalten ihrer Soldaten; diese Konfrontation der Beschreibung unterschiedlicher Figuren wird zum Problem hinführen, dass eine einheitliche Männlichkeit der Figuren der taciteischen Geschichtserzählung nicht zu finden ist. Und dennoch lässt sich, wie im zweiten Abschnitt zu zeigen ist, aus der Analyse der taciteischen Texte eine normative Geschlechtsvorstellung erkennen, die den Fächer der gesellschaftlichen Bedeutungen von Weiblichkeit und Männlichkeit umreisst und sich in die Ausgestaltung der handelnden Figuren der Geschichtserzählung ein-schreibt9. Diese Figuren sind aber keineswegs ‹Idealtypen› im Sinne einer soziologischen Modellkonstruktion, die schlicht die geschlechtsspezifischen Normen verkörpern würden: Im dritten Teil meiner Überlegungen werden einige AkteurInnen der historiographischen Darstellung genauer betrachtet werden, die Elemente von Weiblichkeit und Männlichkeit sowohl in normentsprechender Ausprägung wie auch gegen die normativen Vorstellungen vereinen; sie lassen das breite Spektrum möglicher Geschlechtsidentitäten erkennen, die sich aus der Verknüpfung und Überschneidung von geschlechtsspezifischen Normen mit dem gesellschaftlichen und Freiheitsstatus, der verwandtschaftlichen Position und dem situativ bestimmten Handeln ergeben. Wenn sich daraus auch klar die performative Tätigkeit des Autors erkennen lässt, der die Männlichkeit und Weiblichkeit seiner Figuren in Überlagerung mit anderen gesellschaftlich bestimmten Attributen erzählend konstruiert, so muss in einem vierten Schritt die Frage nach dem Handlungsspielraum aufgegriffen werden: Wie frei ist ein Geschichtsschreiber in dieser geschlechtsspezifischen Ausgestaltung seiner AkteurInnen? Damit will die am historiographischen Text untersuchte These abschliessend auf die grundlegende Problematik hinführen, die in der historischen Lektüre der Geschichtserzählung besteht: Die historische Textanalyse zielt zwingend über den Text hinaus auf die Erkundung vergangener gesellschaftlicher Wirklichkeit – inwiefern wird uns die textuelle Geschlechtsperformanz erlauben, die aussertextuellen Praktiken von Geschlechtsperformanz in der römischen Gesellschaft der Zeit des Tacitus zu erfassen?
I. Sterbende Feldherren und die fragwürdige Männlichkeit römischer Soldaten
Wir befinden uns im Frühjahr des Jahres 69 u.Z. Die Herrschaft in Rom ist umstritten: nach dem erzwungenen Suizid des Kaisers Nero im Juni 68 folgte ihm Galba als princeps. Er wurde schon sechs Monate später ermordet. Seit dem 15. Januar 69 ist Marcus Salvius Otho princeps des römischen Reiches. Doch auch seine Herrschaft ist nicht gesichert: Aulus Vitellius geht mit seinen Truppen gegen ihn vor. An einem Tag im April des Jahres 69 u.Z. wartet der princeps Otho in Brixellum auf die Kunde vom Ausgang der Schlacht, die seine Truppen gegen jene des Usurpators Vitellius in der Nähe des Dorfes Bedriacum ausfechten10. Er erwartet die Nachricht, wie Tacitus schreibt, in aller Ruhe und consilii certus, «sicher in seinem Entschluss». Nach ersten Gerüchten bestätigen die dem Kampf Entflohenen, dass «die Sache verloren» sei11. Obwohl die Soldaten seiner Umgebung dem Feldherrn ihre Kampfesbereitschaft beteuern, lässt sich Otho in seinem Entschluss nicht beirren; er entgegnet ihnen, es wäre ein zu hoher Preis für sein eigenes Leben, wenn er ihren Kampfeswillen und ihre Tapferkeit weiteren Gefahren aussetzen würde. Umso schöner sei sein Tod, je mehr sie Hoffnungen auf sein Weiterleben zeigten12. Tacitus lässt den Feldherrn in seiner Abschiedsrede betonen, er wolle ein exemplum, ein Beispiel, sein, das die Nachwelt beurteilen solle – und er scheint sich des Urteils gewiss: «Andere mögen die Herrschaft länger behalten, niemand wird sich mutiger von ihr getrennt haben»13. Otho, zum Suizid entschlossen, zeichnet sich in der Darstellung des Tacitus in den Stunden vor seinem Tod aus durch constantia und destinatio, durch die Festigkeit seines Entschlusses14; er überzeugt die Jüngeren mit seiner auctoritas, dem Ansehen, und die Älteren durch preces, die Bitten, die er mit ruhiger Miene und mit festen Worten (placidus ore, intrepidus verbis) vorträgt; er verteilt Geldgeschenke mit Sparsamkeit und nicht, als ob er gleich sterben werde15. Otho ermahnt seinen Neffen, Salvius Cocceianus, mit gestärktem Mut das Leben in Angriff nehmen (erecto animo capesseret vitam), ihn als Onkel zwar nicht zu vergessen, aber ihn auch nicht allzu sehr in Erinnerung zu behalten; indem er, Otho, als erster nach den Juliern, den Claudiern und den Serviern die Herrschaft einer neuen Familie durchgesetzt habe, sei dem Namen Salvius und den Nachkommen genügend Würde verschafft worden16. Otho schickt alle weg, ruht sich aus, als ihm ein Krawall der unbeherrschten Soldaten gemeldet wird: Sie bedrohen alle mit dem Tod, die das Lager verlassen wollen. Der Feldherr tadelt scharf die Urheber der Meuterei und sorgt dafür, dass die Abziehenden unbehelligt bleiben. Dann zieht er sich zurück, trinkt Wasser, lässt sich zwei Dolche bringen, deren Schärfe er prüft und von denen er einen unter das Kopfkissen legt; er verbringt eine ruhige Nacht und findet sogar in den Schlaf; beim Anbruch des Tages stürzt er seine Brust in den Dolch (luce prima in ferrum pectore incubuit). Die Leiche wird eilig verbrannt und bestattet: darum hatte Otho gebeten, um zu verhindern, dass der Kopf abgeschlagen und damit böse Spiele getrieben würden17.
Tacitus gestaltet in dieser Passage kunstvoll einen selbstgewählten und ehrenvollen Tod aus für eine Figur, deren Jugendzeit er mit durchaus abwertenden Epitheta versehen hatte: incuriose, «nachlässig», habe er seine Kindheit, petulanter, «ausgelassen», seine Jugend verbracht18. Hier aber wird die Figur Othos auf eine Weise gezeichnet, die Eingang finden könnte in die Sammlungen exemplarischer Todesarten berühmter Männer, die exitus illustrium virorum 19. In dieser Beschreibung eines exemplarischen Todes finden sich Eigenschaften, die auf die Qualitäten eines hervorragenden Feldherrn und – so möchte ich erst mal behaupten, bevor das Postulat weiter unten kritisch zu prüfen sein wird – auf eine exemplarische Männlichkeit hinweisen.
Die Szene des Lebensendes von Otho in der Mitte des zweiten Buches der Historien bildet den Abschluss eines ersten Erzählstranges, der mit der Ermordung des Vorgängers Galba in der Mitte des ersten Buches einsetzt, und darauf folgt die taciteischen Darstellung der knapp acht Monate der Herrschaft des Vitellius; das dritte Buch endet mit dem Tod dieses dritten Usurpators innerhalb eines knappen Jahres20. Die zwei principes dominieren damit die ersten drei Bücher der Historien, und ein Vergleich der beiden Todesszenen ist aufschlussreich: Das Ende von Othos Nachfolger Vitellius lässt eine narrative Männlichkeitskonstruktion erkennen, die in erstaunlicher Konsequenz den positiv gewerteten Attributen des heldenhaft den eigenen Tod inszenierenden Herrschers die Schmach der Gegenfigur gegenüberstellt. Zeichnet sich Otho durch die Sorge um das Schicksal seiner Soldaten aus, das er in der Abschiedsrede aufgreift, wird Vitellius charakterisiert durch seine Unfähigkeit, die Soldaten zu bestärken; er tritt nicht vor Armee oder Volk, sondern hält sich in seinen Gärten versteckt21. Der Sparsamkeit des Otho wird die Luxus-Versessenheit des Vitellius gegenübergestellt22; der befriedigten Feststellung Othos, er habe seinem Namen und damit auch seinen Nachkommen zu Ehre verholfen, steht das «Vergessen» von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Vitellius gegenüber23, dem Mut des ersteren die Ängstlichkeit des letzteren24. Vitellius weiss keine Entscheidungen zu fällen, er ist incertus animi («von unsicherem Gemüt») oder besitzt socors animus, einen «stumpfen Sinn»25: auf diese Weise gibt er die Negativfolie für die constantia des Otho ab. Dieser trinkt Wasser am Vorabend seines Suizids, Vitellius jedoch ist temulentus: er betrinkt sich in bedrohlicher Situation26. Und schliesslich stellt der Text dem vorausschauende Befehl Othos, eine eilige Bestattung solle der Schändung seiner Leiche zuvorkommen, die deformitas exitus, die «Würdelosigkeit des Todes» des Vitellius entgegen, dessen toten Körper der «Pöbel mit derselben Niedertracht verhöhnt wie es dem lebenden Vitellius gehuldigt hatte»27.
In der Darstellung des Todes der zwei principes lässt sich ein Muster römischer Männlichkeit erkennen, das Tacitus in der Gegenüberstellung von Otho und Vitellius in positiver und negativer Exemplarität – bis zur wörtlichen Übereinstimmung28 – vorlegt. Doch diese im Kontrast von Normentsprechung und Normverletzung vermeintlich einfache Ausgestaltung der Bedeutung von Männlichkeit gewinnt an Komplexität, wenn daneben die normative Erwartung29 an die Soldaten der beiden Feldherren gestellt wird. Übereinstimmend mit den exemplarischen Eigenschaften des Feldherrn und princeps Otho zeichnen sich gute Soldaten zwar aus durch die Todesbereitschaft im Dienste ihrer Aufgabe30 und Otho anerkennt ihre virtus 31, doch die männliche «Tugend» hat andere Inhalte als die virtus eines Feldherrn: Während die eigenständige Entschlusskraft des Otho hervorgehoben und die Abhängigkeit des Vitellius von Ratschlägen anderer kritisiert wird, werden exemplarische Soldaten mit der Wortfolge obsequium, parendi amor, virtus, «Unterwerfung, Gehorsamkeitsbereitschaft, Tugend», umschrieben32. Als ein zweiter, grundlegender Unterschied der Bedeutung von virtus für den einzelnen Aristokraten und für die Soldaten zeigt sich für letztere, dass ihr Handeln gerade nicht durch Mässigung und Selbstbeherrschung geprägt sein soll: Im diametralen Gegensatz dazu gehören ferocitas, «ungezähmter Mut»33 und atrocitas, «Grausamkeit»34, zu den hervorragenden Qualitäten von Soldaten, die zu diesen Eigenschaften durch ira 35, furor und instinctus 36 motiviert werden, durch «Zorn, Wut und Instinkt».
Die hier paraphrasierten Passagen zur Darstellung von Soldaten und der Schilderung des Todes von Otho und Vitellius in den Historien des Tacitus werfen die Frage auf, was Männlichkeit im taciteischen Text ist: Sollte Otho der exemplarische Mann sein und Vitellius sein kontrastives Gegenbild, wären dann die Soldaten mit ihrem furor keine Männer? So einfach kann Geschlecht in den taciteischen Texten nicht gefasst werden: Die für Soldaten positiv gewerteten Qualitäten von Grausamkeit und Wut stehen der ruhigen Ausgeglichenheit des exemplarischen Verhaltens eines Otho in seinem Suizid genauso gegenüber wie der unentschlossenen Ängstlichkeit eines Vitellius. Doch sie alle sind männliche Figuren, die der Senator und Geschichtsschreiber Tacitus in Szene setzt auf der Grundlage seines Vorstellungshorizontes, d.h. im Rahmen seiner Wahrnehmungs-Möglichkeiten und der Konzepte, die ihm zur Erklärung und Einordnung der wahrgenommenen Phänomene zur Verfügung stehen. Und zu dieser diskursiven Bedingtheit37 des Autors Tacitus gehören ganz selbstverständlich die gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.
2. Geschlecht in den Annalen
Lesen wir die Annalen, so sind wir mit einer Vielzahl von männlichen und einer weit geringeren, aber dennoch beachtlichen Zahl von weiblichen Figuren konfrontiert, die der Autor als AkteurInnen der Geschichte vom Tod des Augustus bis zum Ende des julisch-claudischen Kaiserhauses mit Nero in Szene setzt. Die Erzählung ihres Handelns ist fast immer von einer Wertung begleitet, die sich aus dessen Konformität mit gesellschaftlichen Normen oder aus deren Verletzung begründet. Eine geschlechtsspezifische Lektüre kann sich diese taciteischen Wertungen zu Nutze machen: Die systematische Analyse des Handelns der Figuren38 lässt die Elemente erkennen, aus denen sich das normative Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit zusammensetzt, das die Darstellung prägt.
2.1 Normative Männlichkeit
Die Merkmale von Männlichkeit im taciteischen Text erweisen sich als sehr einfache Vorstellungen von aktiver Dominanz: Aktiv ist diese Dominanz, weil männliche Norm festlegt, dass ein Mann Subjekt und damit Ausgangspunkt seines Handelns ist; damit ist auch schon die grundlegende Bedeutung von Dominanz genannt, nämlich die Selbstbestimmung, die fremdbestimmtes Handeln und damit die Unterordnung unter eine andere Person ausschliesst39. Diese männliche Dominanz findet bei Tacitus ihren modellhaften Ausdruck in der Figur des – aristokratischen – pater familias, d.h. im kulturell geprägten Bild des ‹Familienvaters›, der allerdings wenig gemein hat mit unserem modernen Verständnis des ‹Vaters›. Der pater ist erstens der älteste lebende Agnat einer römischen domus 40, die er auch gegen aussen verkörpert. Und zu dieser domus gehört die Traditionslinie von den Vorfahren bis zu den Nachkommen; ein idealtypischer römischer Mann hat die Erwartung zu erfüllen, die durch die Vorfahren erworbene Ehrenstellung zu erhalten oder zu erhöhen und an die Nachkommen weiterzugeben. Zweitens übt der pater seine männliche Dominanz mittels der Rechtsgewalt aus, die er über die Personen und den materiellen Besitz der domus besitzt; genauso nimmt er eine hierarchisch übergeordnete Stellung ein als dominus über die Sklavinnen und Sklaven, als patronus über die Klienten und die Freigelassenen. Drittens gibt es für die patria potestas, die Rechtsgewalt des römischen pater, keine zeitliche Begrenzung: erst beim Tod des pater werden seine Söhne ihrerseits zu patres und erreichen damit den Rechtsstatus sui iuris, «eigenen Rechts». Schliesslich ist viertens die Stellung des pater eine durch das Recht bestimmte gesellschaftliche Position, die ein römischer Mann auch dann einnimmt, wenn er nicht verheiratet ist und keine Kinder hat.
Diese Merkmale der Position des pater familias werden im taciteischen Text nicht expliziert, sondern als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt; was wir hingegen in der Analyse des Textes erfassen können, ist die Umsetzung der im Bild des pater familias festgemachten männliche Dominanz in drei Beziehungsformen: Sie findet Ausdruck in der Kontrolle, der Fürsorge und der Instrumentalisierung, mit denen die patres den von ihnen Abhängigen begegnen. Der Bereich der Kontrolle umfasst einerseits die Sicherung und Erhaltung der eigenen politisch-gesellschaftlichen Stellung – und das bedeutet auch: die Kontinuität der eigenen domus und der sozialen Anerkennung, die sie aufgrund der Tradition, der Taten der Vorfahren, geniesst – und andererseits die Wahrnehmung der Verfügungsgewalt über die hierarchisch Untergeordneten. Männliches Handeln unter diesem Aspekt ist folglich die Sorge um die Nachkommen, die in der Adoption von Söhnen oder in der Geburt von legitimen Kindern ihren Ausdruck findet41. Patres vermitteln das gesellschaftliche Prestige ihrer domus an die ihnen untergeordneten Personen – insbesondere die Nachkommen, aber auch an Klienten – und bauen dieses Prestige aus durch die Absicherung von Freundschaften mit geschickten eigenen Heiraten oder der Verheiratung von Töchtern und Söhnen42. Ebenso tragen sie die Verantwortung für das Handeln der in ihrer Rechtsgewalt Stehenden, weshalb in Gerichtsfällen meist Väter in Anklagen gegen ihre Söhne hineingezogen werden und umgekehrt ein Urteil gegen einen Vater auch gegen dessen Sohn gerichtet ist43: Die Abhängigen werden gleichsam als Bestandteil der männlichen übergeordneten Position betrachtet, als in Einheit zugehörig zu jener Person, von der die Abhängigkeit ausgeht. Die einleitend genannten Hinweise in der Abschiedsrede des Otho auf seinen Erfolg in der Erhöhung des Prestige seiner Familie bieten genauso wie seine Worte an den Neffen44 eine perfekte Illustration für diesen normativen Anspruch an Männlichkeit, die sich aus der Dekonstruktion des Textes der Annalen ergibt.
Wenn nun ein pater Prestige an seine Nachkommen vermittelt oder für seine Klienten nutzt, ist das zugleich eine Form der Unterstützung, die auf die Fürsorge als normative Erwartung an männliches Handeln verweist. Das mit dem Familiennamen vermittelte soziale Ansehen gehört zur ideellen und materiellen Förderung und Unterstützung der gesellschaftlich-politischen Karriere männlicher Nachkommen. Aber auch für die der väterlichen Rechtsgewalt unterstellten Frauen erhöht das Prestige ihres pater die Chancen guter Heiratsmöglichkeiten und bedeutet damit eine Unterstützung sowohl für die weibliche soziale Stellung als Tochter oder Gattin eines angesehenen Mannes wie auch für die damit verbundenen Handlungsspielräume45.
Der dritte Bereich männlichen Handelns ist die Instrumentalisierung der Untergebenen. Dabei muss dieser Begriff ganz neutral und nicht mit der – aus moderner Sicht – negativ konnotierten Bedeutung einer ‹Ausnutzung› verstanden werden: die systematische Lektüre der Annalen zeigt als selbstverständliche männliche Norm, dass ein pater familias seine Gattin aufgrund gesellschaftlich-politischer Erwägungen wählt, um zum einen Freundschaftsbeziehungen zu anderen domus zu bestätigen und zum andern mit der Zeugung legitimer Kinder die Kontinuität seiner eigenen domus zu sichern; die Ehefrau ist folglich ein Instrument männlichen Handelns, das auch mit den häufigen Scheidungen und Wiederverheiratungen ausgewechselt werden kann46. Die gleiche Funktion haben die Verheiratungen von Töchtern und Söhnen: sie schaffen Verbindungen von Schwiegervätern untereinander, von Schwiegersöhnen zu Schwiegervätern und umgekehrt47. Patres beziehen ihre Söhne auch in ihr eigenes Handeln ein, indem sie ihnen militärische oder politische Aufgaben übertragen48; damit werden sie zwar als ‹Werkzeuge› benutzt – wie etwa ein Drusus oder ein Germanicus, die Tiberius an seiner Stelle zu meuternden Truppen schickt49 –, erhalten zugleich aber die Chance, ihre politisch-militärischen Fähigkeiten zu entwickeln und zu demonstrieren.
Die Kehrseite dieser männlichen Dominanz über andere ist die Dominanz über die eigene Person – Selbstbeherrschung findet sich in den taciteischen Texten als Voraussetzung für Herrschaft über andere dargestellt. Die hier einleitend vorgelegte Gegenüberstellung von Otho und Vitellius aus den Historien illustriert diese normative Erwartung. In den Annalen ist sie weitgehend auf negative Weise präsent: Insbesondere im kritischen Bild der principes, das Tacitus zeichnet, ist die Unfähigkeit zur Beherrschung der eigenen Triebe ein prägendes Element. Ein Tiberius ist in seiner Palastanlage auf Capri, wohin er sich im Jahre 27 n.Chr. zurückgezogen hatte, in luxus et malum otium resolutus, «dem Luxus und schlechtem Müssiggang zugetan»50, Claudius lässt sich selbst in der bedrohlichen Situation, als seine Gattin Messalina mit dem designierten Konsul C. Silius eine Ehe eingegangen war, nicht von einem Mahl und von Weingenuss abhalten, der ihn «erhitzt» und seiner Gattin gegenüber milde stimmt51, und Nero zeichnet sich durch die Gier nach Reichtum aus52 wie auch ganz allgemein durch Luxus-Exzesse, die Tacitus mit der – wie er schreibt: exemplarischen – Schilderung eines neronischen Gelages illustriert53. Das sind deutliche Transgressionen eines Männlichkeitsmusters, dessen Fundament die Dominanz auch in der Form der Fähigkeit zur Kontrolle der eigenen Begierden und Lüste ist. Dabei zeigt sich bei Tacitus klar, dass diese Begierden sich genauso auf Reichtum, Luxus, Macht wie auch auf sexuelle Beziehungen ausrichten – ‹Sexualität› ist nicht ein eigenständiger Bereich, der sich qualitativ von anderen Genüssen unterscheiden würde54. Genauso wie die Nutzung von Vergnügungen kulinarischer Art erweisen sich sexuelle Praktiken eingeordnet in ein hierarchisches Konzept der Beherrschung: Männlich ist, eine übergeordnete Position der Dominanz zu bewahren55; in einer Sexualbeziehung bedeutet dies, eine im römischen Sinn ‹aktive› Position einzunehmen, das heisst sich Lust verschaffen zu lassen, im Unterschied zu einer ‹passiven› Position, die einem anderen Lust verschafft56. Deshalb finden sich auch in den Annalen die seit republikanischer Zeit – die Invektiven bei Cicero bieten dafür eine Fülle von Beispielen57 – übliche negative Charakterisierung von männlichen Figuren mit der Anschuldigung, sich muliebriter, auf weibliche, d.h. passive Art sexuell nutzen zu lassen58. Im Geschlechtsdiskurs der Annalen ist dies jedoch nur eine besondere Form der Verletzung einer männlichen Norm, die in der Erwartung der Dominanz und der entsprechenden Beherrschung eigener Emotionen und Begierden besteht.
Das Männlichkeitsmuster, das die Gestaltung der taciteischen Figuren bestimmt, lässt in den hier skizzierten drei Elementen – als gesellschaftliche Position des aristokratischen pater familias, als Handlungsbereiche von Kontrolle, Fürsorge und Instrumentalisierung, als Fähigkeit der Selbstkontrolle – in der textanalytischen Arbeit konstruieren. Dennoch findet sich in den Historien und Annalen kaum eine Figur, die diese Männlichkeit in positivem Sinn umfassend repräsentiert. Müsste jedoch nicht im Agricola, der Biographie, die Tacitus seinem Schwiegervater widmet, ein idealtypisches Bild eines Mannes zu finden sein?
2.2 Idealbild Agricola?
Die Forschung ist sich nicht einig, ob der Agricola des Tacitus der Textsorte der Biographie oder der Geschichtsschreibung, der laudatio funebris oder des enkomion zugeschrieben werden soll – und ob diese Gattungsfrage überhaupt von grosser Bedeutung ist59. Weitgehender Konsens besteht jedoch darin, dass die Figur des Agricola in exemplarischer Absicht herausgestellt wird60. Aus dem Text geht das Bild eines tätigen, aktiven Mannes hervor – und dieser Effekt der Erzählung lässt sich durch eine lexikologische Analyse nachweisen: Wenn wir uns ein Untersuchungsobjekt wie Männlichkeit vornehmen, das im Text nicht Thema, jedoch notwendig darin eingeschrieben ist, so können wir uns nicht mit einer Lektüre begnügen, die nur die auf der Oberfläche des Erzählstrangs vorgelegten Bedeutungen erfasst. Wir brauchen für eine analytische Lektüre – im Wortsinn: eine Lektüre, die den Text in die unterschiedlichen Ebenen seiner Bedeutungsproduktion auflöst61 – ein formales Kriterium; werden für eine Untersuchung des Agricola-Textes etwa ausschliesslich die Verben erfasst, deren Subjekt oder Objekt der Protagonist der Erzählung ist62, führt dies zum Ergebnis, dass die Figur Agricola für mehr als zwei Drittel der rund 300 Verben als logisches Subjekt genannt ist. Die Figur erscheint damit deutlich als Ausgangspunkt seines Handelns; wird das semantische Spektrum der Verben in die Analyse einbezogen, so erweist sich dieses Handeln wesentlich als eine Ausübung von Macht. Tacitus führt einen Agricola vor, der diese Macht zu gleichen Teilen gegenüber äusseren Objekten und gegenüber sich selbst ausübt: zum einen also gegenüber unterworfenen Völkern63, Soldaten und Armee, politischen Gegnern und Freunden oder Familienmitgliedern, und zum anderen gegenüber der eigenen Person, die sich auf diese Weise auszeichnet durch Pflichterfüllung, Selbstbeschränkung, die Ausdauer bei der Verfolgung von Handlungszielen und die Beherrschung von Emotionen64.
Stellt Tacitus in diesem stilisierten Bild gewissermassen ein artifizielles Männlichkeitsmuster heraus, in dem die im vorangehenden Abschnitt genannten normativen Erwartungen vereinigt sind, so erhält dennoch die Agricola-Figur in manchen Textpassagen differenzierende Facetten, in denen die glatte Oberfläche idealer Männlichkeit angekratzt wird. Für die Anfänge seiner politischen Karriere etwa hält der Text – im klaren Gegensatz zur generellen Tendenz der Gesamtdarstellung, die Tatkraft des Protagonisten herauszustellen – fest, Agricola habe «den Zeitraum zwischen Quästur und Volkstribunat und auch das Tribunatsjahr selbst in Ruhe und Untätigkeit vorübergehen» lassen, «weil er die Zeitumstände unter Nero einzuschätzen wusste, in denen Untätigkeit weise war»65. Wenig später wird seine Tätigkeit als Kommandant der XX. Legion in Britannien unter dem Legaten Vettius Bolanus (69-71) charakterisiert durch die Umschreibung: «Agricola zügelte seinen Tatendrang (vis) und dämpfte seinen Eifer (ardor), damit er nicht weiter anwuchs, er hatte Gehorsam gelernt und wusste, das Nützliche mit dem sittlich Guten zu verbinden»66. Als deutlicher Widerspruch zu einer männlichen Norm, die eine Unterwerfung unter die Gewalt eines anderen ausschliesst, findet sich Agricolas Gehorsam auch gegenüber dem Feldherrn Q. Petil(l)ius Cerialis als virtus, «männliche Tugend» hingestellt67. Betont wird insbesondere in den abschliessenden Kapiteln der biographischen Schrift die kluge Selbstbescheidung, Emanation einer perfekten ‹Macht über sich selbst›, die nun aber gerade nicht als Voraussetzung für eine ‹Macht über andere› erscheint: Bei seiner Rückkehr aus Britannien nach Rom zieht Agricola eine nächtliche Ankunft vor, um jegliches Aufsehen zu vermeiden68, und er verzichtet in der Folge gänzlich auf die Verwendung seines militärischen Ruhmes, der unter den otiosi, unter den weder mit militärischen noch andern offiziellen Dingen Beschäftigten, nur belastend wäre, und wendet sich der Stille und Musse zu69.
In diesen Passagen zeigt sich ein Agricola, der von idealtypischen Männlichkeitsnormen Abstand zu nehmen weiss – er verharrt in Untätigkeit statt männliche Aktivität zu beweisen, er beweist obsequium, was genauso als «Nachgiebigkeit» wie als «Gehorsam» verstanden werden kann, statt die männliche Position der Dominanz wahrzunehmen. Diese Anpassungsfähigkeit des Protagonisten führt dann zur wohl am häufigsten zitierten und kommentierten Sentenz aus Agricola, worin Tacitus sich von jenen abgrenzt, die sich durch einen «für die res publica nutzlosen und ehrsüchtigen Tod» Ruhm erwerben70. Wenn nun aber eine exemplarische Figur nicht konsequent mit den Attributen der Männlichkeit versehen und gar ein flexibler Verzicht darauf als nachahmenswert dargelegt wird, mahnt uns diese Beobachtung zur Vorsicht: Ganz offensichtlich besteht zwischen der Kategorie der Männlichkeit und der Ausgestaltung männlicher Figuren im taciteischen Text kein schlichtes Verhältnis von Norm und deren Umsetzung in beschriebene Praxis. Vielmehr adaptiert sich die Männlichkeitsnorm an politische und gesellschaftliche Verhältnisse; Männlichkeit erweist sich damit als eine Kategorie, die nicht isoliert ist, sondern notwendig mit anderen Kategorien der Lebensgestaltung eines Aristokraten in wechselseitiger Beziehung steht. Darin lässt sich ein erster Aspekt einer Performanz von Männlichkeit erkennen, deren Bedeutung noch klarer fassbar wird, wenn wir sie auf ihre Unterschiede zu den Weiblichkeitskonzepten, wie sie sich aus den Annalen erarbeiten lassen, prüfen.
2.3 Weiblichkeitsmuster
Weiblichkeit definiert sich in den Annalen des Tacitus zunächst nicht als präskriptive Norm, sondern als deskriptive Festlegung: Jeder Frauenfigur wird Weiblichkeit als inhärentes Merkmal zugeschrieben. Während Männlichkeit erworben werden muss durch aktive Wahrnehmung einer dominierenden Position, ist Weiblichkeit ‹angeboren› – in Umkehrung der berühmten Formulierung von Simone de Beauvoir71 liesse sich für die antike römische Geschlechtsvorstellung formulieren: In Rom wird man nicht als Mann geboren, man entwickelt sich zum Mann. Für die Vorstellung von Weiblichkeit gilt das Gegenteil: Die Annalen beschreiben weibliche Figuren als Geschlecht, charakterisiert durch Verhaltensweisen, die der Text aus der Tatsache, dass sie Frauen sind, begründet; vielfach werden in den Annalen die Frauen als Kollektiv mit dem Wort sexus bezeichnet72, und die Qualifikativa, die diesem lateinischen Wort für Geschlecht beigefügt sind, können imbecillus, invalidus, imbellis («schwächlich», «kränklich», «unkriegerisch-feige») sein. Somit ist die Festschreibung einer weiblichen Essenz keineswegs neutral: diese Weiblichkeit ist negativ konnotiert, was auch in der Tatsache Ausdruck findet, dass muliebris73 durchwegs mit abwertender Bedeutung verwendet wird74. Denn es ist vor allem ein grundlegender Mangel, der in den Annalen dieses «weibliche Geschlecht» kennzeichnet: die muliebris inpotentia, «weibliche Masslosigkeit»75, die Unfähigkeit also, eigene Triebe zu beherrschen.
Explizit bringt dies Tac. ann. 3.33-34 zum Ausdruck, worin über eine Senatssitzung im Jahre 21 berichtet wird, in der der Antrag des A. Severus Caecina debattiert wurde, den Magistraten sei die Mitnahme ihrer Gattin in die Provinzen zu untersagen; Caecina begründet laut Tacitus seinen Antrag mit der Feststellung, die Frauen seien non imbecillum tantum et imparem laboribus sexum, sed, si licentia adsit, saevum, ambitiosum, potestatis avidum («nicht nur ein schwaches und Anstrengungen nicht gewachsenes Geschlecht, sondern, wenn man sie gewähren lasse, ein brutales, ehrgeiziges und machtsüchtiges»76). Die Aussage muss zwar in ihren polemischen Zusammenhang gestellt werden – doch die Gegenrede, die M. Valerius Messalla Messalinus in den Mund gelegt wird, argumentiert mit den genau gleichen Aussagen zu Weiblichkeit: Bei Annahme des Antrags würde «das von Natur aus schwache Geschlecht [sexus natura invalidus] allein gelassen, ausgesetzt der eigenen Verschwendungssucht und den Begierden anderer. Kaum sei es ja möglich die Ehen durch ständige Überwachung unversehrt zu erhalten, was würde daraus erst werden, wenn sie für mehrere Jahre wie bei einer Scheidung vergessen würden?»77. Und dem Antragsteller Caecina wird entgegengehalten, er solle doch nicht die feige Nachlässigkeit der Männer vertuschen, denn viri in eo culpam, si femina modum excedat, «der Mann trägt die Schuld, wenn die Frau das rechte Mass überschreitet»78.
Bemerkenswert an dieser ‹Senatsdebatte›scheint mir, dass die beiden Standpunkte von Caecina und Messalla trotz ihres Gegensatzes mit exakt derselben Vorstellung von Weiblichkeit argumentativ begründet werden79 – und von besonderem Interesse ist zudem, dass Tacitus darin Stereotypen übernimmt, hinter denen rhetorische Topoi zu vermuten sind, die sich auch schon bei Livius finden80: Die weibliche Unfähigkeit zur (rationalen) Selbstbeschränkung findet ihren Ausdruck im Hang zu Luxus und Verschwendung, der weiblichen Figuren zugeschrieben wird, in sexueller Unersättlichkeit und in ständigem Geltungsdrang in Konkurrenz zu anderen (aemulatio). Weiblichkeit ist in den Annalen also «aufgrund ihrer Natur»81 eine Bedrohung der Ordnung, und sie bestärkt umgekehrt in den konzeptuellen Bestimmungen des Geschlechtsdiskurses die Bedeutung sowohl männlicher Selbstbeherrschung als Garant der Ordnung wie auch der Kontrolle über die der männlichen Rechtsgewalt unterstellten Frauen82. Was sich in den Annalen über diese grundlegenden Festlegungen hinaus an normativen Erwartungen gegenüber weiblichem Verhalten erkennen lässt, ist ebenso eine Antwort auf die Männlichkeitsnormen: Ordnungsentsprechendes weibliches Handeln ist Unterordnung und Einordnung. Die Inhalte dieses Handelns von Frauen sind in den Annalen unter zwei Aspekten beschrieben: der Erfüllung der instrumentellen Funktion, die Frauen übertragen sind, und der Einordnung in den Verband einer domus mit entsprechend ‹solidarischem› Verhalten zu den Gliedern dieses Verbandes.
Der erste Aspekt ist angesprochen in den Textpassagen, worin die Treue von Ehefrauen (mit all den damit verbundenen Eigenschaften der «Erholung bietenden» Gattin, der Vertrauensperson, der «Begleiterin in allen Lebenslagen»83) und ihre «Fruchtbarkeit» erwähnt sind; die Norm der treuen und kindergebärenden Gattin lässt sich e contrario ebenso aus den wesentlich häufigeren Hinweisen auf ehebrecherische Aktivitäten erschliessen84. Verbunden damit ist die Funktion von weiblichen Figuren, Sozialprestige zu übertragen: Ehefrauen geben die gesellschaftliche Geltung ihres Vaters an den Gatten weiter, Mütter vermitteln das Ansehen ihrer Gatten oder Väter den Söhnen wie auch Töchtern. Der zweite Aspekt des Handlungsspektrums weiblicher Figuren umfasst Unterstützung, Zuneigung oder auch Respekt gegenüber männlichen oder weiblichen Objekten des Handelns; dabei wird im Text dieses Handeln dann als ordnungsentsprechend gewertet, wenn zwischen den Beteiligten eine verwandtschaftliche oder eine durch Allianzen unter Männern begründete Bindung besteht. Die Darstellung weiblichen Norm-Verhaltens kann deshalb gesehen werden in der Unterstützung der Mütter für ihre Söhne oder Töchter, der Gattinnen für ihren Mann, der Grossmütter oder Schwiegermütter gegenüber ihren Enkelinnen oder Schwiegertöchtern, in der – massvollen85 – Zuneigung von Schwestern zu ihren Brüdern oder im Respekt von Töchtern der Mutter und dem Vater gegenüber. Die positive Wertung dieses ‹solidarischen Verhaltens› von weiblichen Personen findet aber ihre Grenze nicht nur bei einer Ausweitung des sozialen Rahmens über Verwandtschafts- oder Freundschaftskreise hinaus, sondern auch bei Überschreitung eines bestimmten Handlungsrahmens: klare Beispiele transgredierender Unterstützung sind die als Machenschaften gewerteten Bemühungen von Kaisergattinnen wie Livia und Agrippina minor, ihren Söhnen die Nachfolge zu sichern, oder auch die Beteiligung der Gattin an den Aufgaben des Feldherrn86.
Damit wird normentsprechende Weiblichkeit in den Annalen dreifach als Einordnung gekennzeichnet: der Handlungsspielraum weiblicher Figuren ist durch den gesellschaftlichen Rahmen der domus bestimmt87, durch die Beschränkung des Handelns auf Bereiche, die nicht institutioneller Politik oder Armee-Angelegenheiten zugehören, und dieses Handeln ist ‹re-aktiv›: Wenn männliche Normen ein ‹Handeln-aus-sich-heraus› verlangen, kennzeichnet sich Weiblichkeit durch ‹Handeln-in Bezug auf›; ordnungsentsprechendes männliches Handeln ist der Anstoss, der Anfang einer Handlungskette, und weibliches Handeln ist die Antwort auf diesen Anstoss, wird als ein Glied einer Handlungskette verstanden.
Aus den taciteischen Texten geht die hier vorgelegte Vorstellung einer dichotomischen Geschlechtsdifferenz hervor: die Normen weiblicher Unterordnung und ‹Re-Aktivität› werden jenen der männlichen Dominanz und des aktiven Handelns gegenübergestellt. Allerdings beruht diese Dichotomie nicht auf Reziprozität: Männlichkeit ist nicht gegeben, sondern muss erworben werden insbesondere durch die Selbstbeherrschung als Voraussetzung der Herrschaft über andere, während Weiblichkeit als ‹naturgegeben› gilt und Unfähigkeit zur Selbstbeherrschung bedeutet. Daraus folgt, dass das Gegenteil männlicher Norm nicht Weiblichkeit bedeutet und umgekehrt; zu unterscheiden ist in der binären Geschlechtsdifferenz, die das Maskuline dem Femininen gegenüberstellt, eine ternäre Struktur: innerhalb der Maskulinität steht den Normen der Männlichkeit die Transgression dieser Normen gegenüber, die nicht als Weiblichkeit, sondern als Unmännlichkeit gedeutet wird; andererseits kann es keine ‹Unweiblichkeit› geben, weil Feminität als Existenzweise gilt – Transgressionen des Weiblichen weisen auf Übernahme männlicher Werte hin. Was die Analyse des taciteischen Textes auf diese Weise hervorbringt, ist eine dreigliedrige Opposition von Geschlechtsvorstellungen – Männlichkeit, Unmännlichkeit, Weiblichkeit –, die gleichwohl in die hierarchische Gegenüberstellung von Maskulinität und Feminität eingeordnet sind und damit ein Vokabular der Macht zur Verfügung stellt.
3. Intersektionale Performanz von Geschlechtsidentitäten
Auch wenn dieser Geschlechtsdiskurs den Hintergrund der taciteischen Darstellung von Geschichte bildet und dem Autor zur Wertung von männlichen und weiblichen Figuren dient, zeigt gleichwohl jede einzelne Figur, die Tacitus in seiner Geschichtsdarstellung in Szene setzt, dass sie nicht einfach als Verkörperung dieser Normen ausgestaltet sind. Oder, anders formuliert: die männlichen und weiblichen Akteure der Geschichtserzählung setzen geschlechtsspezifische Normen partiell und in Auswahl um, mischen Aspekte von Männlichkeit und Weiblichkeit mit anderen Aspekten gesellschaftlicher Existenz und sind Beispiele für eine Ausgestaltung von Identität, die in heutiger Terminologie als intersektionale Performanz bezeichnet werden kann. Die Performanz zeigt sich auf der Ebene der Geschichtserzählung in der Beschreibung des Handelns der Akteurinnen und Akteure, worin ihre Realisierung von geschlechtsspezifischen Mustern in ganz unterschiedlicher Ausprägung zum Ausdruck kommt. Und die Intersektionalität 88 dieser Zuschreibung von Geschlecht ergibt sich daraus, dass der Autor Tacitus die Figuren seiner Erzählung in Szene setzt, indem er ihre geschlechtsspezifischen Handlungsformen mit ihrem gesellschaftlichen und Rechtsstatus verbindet und sie zudem mit den argumentativen und narrativen Funktionen versieht, für die er sie in seiner Geschichtsdarstellung verwenden will Die Verwischung der klaren Konturen dichotomischer Geschlechtsidentitäten in der Ausgestaltung der Figuren lässt sich zum einen in der Darstellung von Gruppen männlicher Figuren89 beobachten, deren Handeln durch ihren Status bestimmt ist, zum anderen in der Inszenierung von sowohl männlichen wie weiblichen Einzelfiguren.
3.1 Kollektive, Status und Geschlecht
Soldaten – ihre Darstellung wurde oben (Abschnitt 1) kurz skizziert – treten in den taciteischen Texten fast ausschliesslich als Kollektiv90 in Erscheinung, und von ihnen wird nicht nur in der oben kommentierten Passage aus den Historien, sondern auch im Agricola und in den Annalen gerade nicht aktive Dominanz, die als Grundlage von Männlichkeit gilt, verlangt. Vielmehr ist der amor obsequii, die «Liebe zur Gehorsamkeit»91 die selbstverständlich erwartete Verhaltensweise von Soldaten92, mit anderen Worten: eine Ein- und Unterordnung, die, wie oben festgestellt, ein grundlegendes Merkmal von Weiblichkeit ist. Soldaten aber müssen durch militärische disciplina zu dieser Unterordnung angehalten werden: Als nach der Nachricht vom Tod des Augustus der Heerführer der pannonischen Legionen die «gewohnten Beschäftigungen» unterbrechen lässt und damit die strikte Ordnung des Heerlagers lockert, folgt daraus, dass lascivire miles, «die Soldaten sich gehen lassen», nur noch nach Verschwendung und Nichtstun streben und von Disziplin und Anstrengung nichts mehr wissen wollen: das ist der Ausgangspunkt einer Meuterei93. Soldaten sind folglich unfähig zur Selbstbeherrschung – Beute- und Geldgier etwa ist ein Topos, der kaum je bei der Erwähnung von Soldaten in taciteischen Texten fehlt94 –, allerdings wird diese Masslosigkeit, im Unterschied zur muliebris impotentia, nirgendwo auf eine natura der Soldaten zurückgeführt. Sie hat die Konsequenz, dass atrocitas und ferocitas, unkontrollierter Ausbruch männlicher Brutalität, die römischen Soldaten auszeichnet, was im militärischen Zusammenhang eine durchaus positive Wertung erfahren kann95.
Nicht nur an Soldaten wird evident, dass männliche Normen in engstem Zusammenhang mit gesellschaftlichem Status stehen, der darüber bestimmt, welche geschlechtsspezifischen Elemente – männliche, unmännliche oder weibliche – in das Bild der Figuren der Erzählung integriert werden. Ein weiteres Beispiel sind männliche Figuren in der Position von Söhnen: In den Annalen schreibt Tacitus Söhnen kaum eigenständiges Handeln in Bezug auf ihre Väter zu – mit den signifikanten Ausnahmen der Söhne des Tiberius, Drusus und Germanicus96, und des Sohnes von M. Calpurnius Piso, deren positiv gewertete und zugleich gegen die Väter gerichtete Taten sich auf väterliche Figuren beziehen, die ausserhalb der gesellschaftlich-politischen guten Ordnung situiert sind. Entscheidend ist aber, dass sich letztlich sowohl die Söhne des Tiberius97 wie auch jener des Piso der väterlichen Gewalt unterordnen: Auch wenn Pisos Sohn Marcus seinem Vater einen Ratschlag erteilte, den dieser ablehnte, beteiligte er sich gegen seine Überzeugung an dessen Kriegsvorbereitungen98. Im Prozess gegen Piso plädiert Tiberius für den Freispruch des Sohnes, weil er sich nur aufgrund der Befehle des Vaters am Bürgerkrieg beteiligt habe: nec potuisse filium detrectare, «und der Sohn konnte sich nicht verweigern»99. Im Widerspruch also zur Vorstellung einer männlichen Norm, die eine Unterordnung unter eine andere Person ausschliesst, gilt für Söhne der respektvolle Gehorsam ihrem Vater gegenüber als unausweichlich.
Söhne und Soldaten können folglich aufgrund ihres gesellschaftlichen und Rechts-Status die Norm der männlichen aktiven Dominanz nicht wahrnehmen; Gleiches gilt auch für andere Positionen und es wäre interessant, die geschlechtsspezifische Ausgestaltung etwa von Freigelassenen, von Sklaven, von Schauspielern oder auch von Angehörigen des Ritterstandes systematisch zu untersuchen.
3.2 Mosaiksteine von Geschlechtsidentität
Nicht nur in sozialen Gruppen lässt sich aufgrund ihrer gesellschaftlich-strukturell bedingten Position eine Infragestellung des Männlichkeitsmusters feststellen, sondern auch in praktisch allen Einzelfiguren ist das Spiel mit männlichen, aber auch weiblichen Normen zu beobachten. Tacitus’ Schwiegervater Agricola liefert das exemplum für einen «grossen Mann unter schlechten Kaisern», und wir konnten – supra, Abschnitt 2.2 – feststellen, dass er auf die Umsetzung seiner aktiven männlichen Dominanz unter den politischen und militärischen Bedingungen zu verzichten wusste, die dies verlangten: Obsequium wird ihm als Tugend zugeschrieben in seiner Funktion als Legionskommandant gegenüber den Statthaltern Britanniens100; obsequium ac modestia, «Gehorsam und auch Bescheidenheit» werden aber in der vielbesprochenen Passage Agricola 42.4 ganz generell als Qualitäten für «grosse Männer» herausgestellt, die sich unter «schlechten Kaisern» bewähren müssen. Bescheidenheit verweist auf die männliche Fähigkeit der Selbstbeherrschung, die Unterordnung auf das Weiblichkeitsmuster, dem hier aber zusätzlich industria ac vigor, «Beharrlichkeit und Tatkraft» gegenübergestellt wird. Doch selbst dieser «beharrlichen Tatkraft» entsagt Agricola unter dem Prinzipat Neros, weil unter seiner Herrschaft «Trägheit als Weisheit» (inertia pro sapientia 101) zu betrachten war. Untätigkeit ist keine weibliche, sondern eine unmännliche Norm – in der geschlechtsspezifischen Ausgestaltung der Figuren ist, wie oben102 festgehalten, nicht jede Transgression der Männlichkeitsbilder eine Annäherung an Weiblichkeit.
Die unmännliche Tatenlosigkeit wird verschiedentlich in den taciteischen Texten genannt und erhält ihre argumentative Wertung in der Geschichtserzählung allein durch den Kontext. Wir finden sie etwa in der oben skizzierten Charakterisierung des Vitellius: «schlaff und untätig» bringt er die Zeit hin in seinen Gärten103. Dass daraus eine – im Unterschied zu Agricolas «weiser Trägheit» – unzweideutig negative Wertung der Vitellius-Figur entsteht, bewirkt der Text, indem er das Bild des Vitellius durch eine Kombination dieses Charakterzugs mit weiteren Transgressionen männlicher Normen ausgestaltet: mit der – weiblich konnotierten – Unfähigkeit, die Begierden auf Lustbarkeiten einzuschränken, mit dem unmännlich «stumpfen» und «wankelmütiger Sinn» (socors animus, mobilitas ingenii), der Vitellius daran hindert, Entschlüsse zu fassen (improvidus consilii), und daraus ergibt sich die dem Anspruch an männliche aktive Dominanz entgegengesetzte Abhängigkeit gegenüber den Ratschlägen anderer104. Umgekehrt wiederum führt Tacitus in den Annalen die bewusste Wahl der Untätigkeit an der Figur des Senators Thrasea Paetus als Beispiel einer aufrichtigen Haltung gegen den herrschenden princeps Nero vor: Thrasea verlässt den Senat, als dieser im Jahre 59 Dankbeschlüsse für die Beseitigung der Agrippina minor fasst105, er ist nicht präsent beim regelmässigen Beschluss der Gelübde für das Wohlergehen des Kaisers, obwohl er Mitglied des Priesterkollegiums der quindecimviri sacris faciundis ist, und er nimmt schliesslich, obwohl als ehemaliger Konsul des Jahres 57 zum hierarchisch höchstgestellten Kreis der Konsulare gehörte, während dreier Jahre nicht mehr an den Senatssitzungen teil106. Mit diesem Verzicht auf aktive Tätigkeit verbunden werden allerdings keine weiteren Transgressionen, sondern die Darstellung des Thrasea als Beispiel männlicher Tugend (virtus ipsa 107): Er nimmt selbst die Hinweise auf seinen bevorstehenden Tod immoto animo, «mit unerschütterlichem Sinn» auf und zeigt schliesslich dem jungen Mann, der das Todesurteil des Senats überbringt, die geöffneten Pulsadern, aus denen das Blut strömt, mit der Ermahnung, er solle hinsehen, denn er sei in Zeiten hineingeboren, in denen es wichtig sei, sich an Beispielen von Standhaftigkeit zu stärken108.
Nicht nur männliche Figuren werden exemplarisch in einer vielfältigen Komposition von männlichen, unmännlichen und weiblichen Komponenten in Szene gesetzt, ebenso zeigt sich diese narrative Geschlechtsperformanz bei weiblichen Figuren – die bekannteste und vielfach besprochene ist Agrippina maior, die bei Tacitus als femina ingens animi bezeichnet wird, als «überaus starke Frau durch ihren Mut»109. Sie wird als Gattin des Germanicus mit dem Hinweis auf ihre Abstammung und ihre Fruchtbarkeit in die Geschichserzählung eingeführt: «Inzwischen erfuhr Germanicus, der in Gallien, wie erwähnt, die Vermögenseinschätzungen entgegennahm, dass Augustus gestorben war. Er hatte dessen Enkelin Agrippina zur Frau und von ihr mehrere Kinder»110. Nach Hinweisen auf die Beliebtheit des Germanicus beim römischen Volk – hier für einmal nicht als plebs oder vulgus, sondern als populus Romanus bezeichnet111 – und auf die darin begründeten «versteckten Hassgefühle» des Tiberius und der Livia gegen ihn112, nennt Tacitus die «durch stiefmütterlicher Gefühle aufgestachelte weibische Missgunst» der Livia gegen Agrippina113, fügt gleich aber auch an, Agrippina selbst wäre allzu leidenschaftlich gewesen, wenn sie nicht durch Keuschheit und Gattenliebe ihren ungebändigten Charakter zum Guten gewandt hätte114. Zur Ausgestaltung der Agrippina-Figur greift Tacitus somit von Beginn an auf das positive männliche Element der Abstammung, auf das weibliche Element der fruchtbaren Gebärerin in ihrer Funktion als Gattin zurück, zugleich aber auch auf die mit den Weiblichkeitsvorstellungen notwendig verbundenen Wesenszüge der Leidenschaftlichkeit und des ungezähmten Charakters; diesen jedoch stellt er die Fähigkeit der Agrippina gegenüber, mit den weiblich konnotierten Erwartungen an castitas und mariti amor zu einer Beherrschung dieses Charakters zu gelangen, die nun wieder an männliche Erwartungen erinnert. Agrippina wird damit als Ausnahme dargestellt, weil sie selbst zu dieser Beherrschung gelangt und nicht durch ihren Gatten erst dazu gebracht wird, die «Grenzen nicht zu überschreiten»115.
Die unterschiedlichen Facetten der Figur der Agrippina maior prägen insgesamt ihre Darstellung in den Annalen. Im Nekrolog zu ihrem Tod im Jahre 33 wird diese Spannung zusammenfassend vorgelegt: einerseits stellt Tacitus fest, Agrippina habe virilibus curis feminarum vitia exuerat («sich mit männlichen Bestrebungen der Laster der Frauen entledigt»), und andererseits verweist er auf ihre Unfähigkeit, «eine bescheidene Stellung zu ertragen», und auf ihre «Gier, zu herrschen» (aequi impatiens, dominandi avida 116). Agrippina maior ist in den Annalen eine Frau von pudicitia inpenetrabilis, von «undurchdringbarer Keuschheit»117; gleichzeitig wird sie mit atrocitas und ferocia, «Grausamkeit» und «Wildheit»118 assoziiert: nach dem Tod ihres Mannes Germanicus ist sie violenta luctu et nescia tolerandi, «hemmungslos in der Trauer und unfähig, sie zu ertragen»119, wird als superba fecunditate, «überheblich durch ihre Fruchtbarkeit»120 beschrieben, und ihr Schwiegervater Tiberius wirft ihr adrogantia oris und einen contumax animus vor, «überhebliche Rede» und ein «störrisches Gemüt»121. In das mit diesen Charakterisierungen umrissene semantische Feld passt durchaus auch die oben erwähnte Bezeichnung femina ingens animi, die damit allerdings auch eine zwiespältige Note erhält: Die Grösse der Frau, die mit ihrem Mut und ihrer Charakterstärke begründet wird, ist Ergebnis einer Fähigkeit, eigenständig zur Beherrschung ihrer Triebe zu gelangen; die muliebris impotentia, die «weibliche Masslosigkeit» ist gleichwohl der Figur der Agrippina in aller Deutlichkeit zugeschrieben. Agrippina maior erscheint deshalb als eine der weiblichen Figuren der Annalen, die mit rational-männlichen Mitteln ein Ziel zu verfolgen vermag, das jedoch von weiblicher Masslosigkeit diktiert ist122. Und in einem solchen Zusammenhang kann selbst pudicitia eine zwiespältige Beurteilung erhalten: wenn sie als berechnend eingesetztes Werkzeug dargestellt ist und nicht nur als Erfüllung einer Verpflichtung gegenüber dem Ehemann, dem Vater oder der domus. Den auf diese Weise mit männlich und weiblich konnotierten Elementen des Geschlechtsdiskurses ausgestalteten weiblichen Figuren – neben Agrippina maior auch ihre Tochter Agrippina minor oder Poppaea Sabina – wird ein Widerspruch zwischen selbstbeherrschtem Handeln und dem Muster der durch ihre Natur determinierten Frau zugeschrieben, der sich im Text dadurch auflöst, dass Rationalität nur für das ‹taktische› Vorgehen, nicht aber für die ‹strategischen› Motive und Ziele des weiblichen Handelns anerkannt wird.
Auf wiederum unterschiedliche Weise werden weibliche und männliche Elemente in der Konstruktion einer weiblichen Figur aktualisiert, die Victoria Pagán als «one of the most fascinating characters of the Annales» bezeichnet123 und die tatsächlich eine Ausnahme darstellt, weil mit Epicharis eine Freigelassene und Frau als vorbildliche Figur kontrastierend zum unehrenhaften Verhalten von «Freigeborenen, Männern, römischen Rittern und Senatoren» (ingenui et viri et equites Romani senatoresque)124 hingestellt wird. In der Erzählung der Vorbereitungen zur so genannten ‹Pisonischen Verschwörung› gegen Nero im Jahre 65 wird «eine gewisse Epicharis» eingeführt, «die sich zuvor nie um irgendwelche ehrbaren Dinge gekümmert hatte»125 – als ehemalige Sklavin gehörte sie nicht zu den freigeborenen römischen Frauen, die sich durch keusche Sittsamkeit, pudicitia, hätte auszeichnen können. Und dennoch wird diese Figur hervorgehoben als auf männliche Weise aktiv Handelnde, die den Verschwörern ihr Zaudern und Schwanken zwischen Hoffnung und Furcht zum Vorwurf macht und ihre Liebschaft mit dem Kommandanten der Flotte von Misenum, dem nauarchus Volusius Proculus126, dazu benutzt, um ihn und damit die Flotte für die Verschwörung zu gewinnen. Allerdings nannte Epicharis keine Namen der Verschwörer, sodass Proculus, der ihr Gespräch Nero hinterbrachte, von ihr «mangels Zeugen leicht zum Schweigen gebracht werden konnte»127. Dennoch wurde sie in Gewahrsam gehalten.
Wenig später wurden zwei der Verschwörer, die Senatoren Flavius Scaevinus und Antonius Natalis, aufgrund des Verrats eines Freigelassenen des Scaevinus verhaftet. Dem Freigelassenen Milichus attestiert der Text einen servilis animus, eine «sklavenhafte Gesinnung», die ihn nur an die Belohnung für den Verrat an seinem Patron denken liess; zudem be-sprach er sich mit seiner Frau, die ihm ein consilium muliebre ac deterius erteilte, «den Rat einer Frau und deshalb umso schlechter»128. Die zwei verhafteten Verschwörer halten den Anblick der Folterinstrumente und die entsprechenden Drohungen nicht aus: zuerst verrät Natalis sowohl Piso wie auch Seneca, und als Scaevinus vom Geständnis des Natalis erfährt, bringt ihn seine imbecillitas, «Schwäche», dazu, alle andern an der Verschwörung Beteiligten zu verraten129.
Diese Aussagen bilden den Hintergrund für die Ausgestaltung der exemplarischen Haltung der Epicharis: Die imbecillitas des Senators Scaevinus erinnert an die generelle Beschreibung von Frauen als imbecillus et imparem laboribus sexus 130; andererseits zeichnet sich Milichus, ein Freigelassener wie Epicharis, durch einen unmännlichen (aber auf seinen Status als ehemaligen Sklave verweisenden) servilis animus aus, und drittens findet sich in Bezug auf die Frau des Milichus die Allgemeingültigkeit beanspruchende topische Aussage über Frauen consilium muliebre ac deterius: wenn Frauen einen Ratschlag erteilen, so kann er nur schlecht sein. Dass zwischen dieser Feststellung und der Figur der Epicharis ein eklatanter Widerspruch besteht, scheint den antiken Autor (und sein Publikum) nicht zu stören – Geschlechts-Stereotypen können offenbar problemlos neben die Ausgestaltung von Figuren gestellt werden, die diese Stereotypien dementieren. Denn Epicharis, an die sich Nero nach den Geständnissen der zwei Senatoren erinnert und die er «durch Folterung zu zerreissen» (tormentis dilacerari) befiehlt in der Annahme, ein weiblicher Körper könne Schmerzen nicht aushalten, widersteht den Schlägen, den glühenden Eisenplatten und der umso grösseren Wut der Folterknechte, als diese nicht vor einer Frau klein beigeben wollten131: sie streitet alle Anschuldigungen ab. Als sie am zweiten Tag auf einem Tragsessel zur Folter gebracht wird, weil sie mit ihren ausgerenkten Gelenken nicht mehr stehen kann, bindet sie ihr Brusttuch zu einer Schlinge an die Stuhllehne und erhängt sich mit dem Einsatz ihres ganzen Körpergewichts, clariore exemplo libertina mulier in tanta necessitate alienos ac prope ignotos protegendo, «ein um so leuchtenderes Beispiel, als sie, eine Freigelassene, eine Frau, in solcher Bedrängnis Fremde, ja nahezu Unbekannte schützte», während die Freigeborenen nur schon aus Angst vor der Folter die nächsten Angehörigen preisgaben132.
In der Figur der Epicharis legt Tacitus ein Beispiel nicht nur für ein – in seiner Sicht – vorbildhaftes Verhalten «unter schlechten principes» vor, sondern in geschlechtsspezifischer Perspektive ebenso ein Beispiel für die vielfältige Konstruktion von Geschlechsidentität: Die Freigelassene kann aufgrund ihres gesellschaftlichen Status die Weiblichkeitsnorm der pudicitia nicht erfüllen, der umgekehrt eine Agrippina maior exemplarisch entspricht und die sie aber mit rationalem Kalkül benutzt. Beide weibliche Figuren verletzen die normative Erwartung an Weiblichkeit, indem sie auf männliche Art eigenständig handeln; sie kehren damit die Regeln der Machtpraktiken um, was Agrippina die Bezeichnung der femina ingens einbringt, und Epicharis triumphiert zunächst über ihren Ankläger Proculus, den sie «zum Schweigen bringt», und danach über ihre Folterknechte, deren männliche Gewalt an ihrem Widerstand scheitert und denen sie sich durch ihren exemplarischen Suizid entzieht. Die hier diskutierten weiblichen Figuren unterscheiden sich von den zwei herausgegriffenen männlichen, die ihrerseits die männliche Norm selbständigen Handelns verletzen, indem ein Agricola unter der Herrschaft Neros «auf weise Art» die Untätigkeit wählt und ein Thrasea Paetus sich in provozierender Weise aus politischer Tätigkeit zurückzieht. Bei aller unterschiedlichen Wertung der zwei Figuren veranschaulicht Tacitus in ihrem unmännlichen Verhalten der Inaktivität übereinstimmend die Machtsituation: sie können beide ihre Männlichkeit als Dominanz nicht wahrnehmen. Männliche Standfestigkeit vor dem Tod hingegen verbindet einen Thrasea Paetus mit einer Epicharis, und wir können uns auch an die eingangs kommentierte Szene des Suizids von Otho erinnern.
Was ich hier nur an wenigen Beispielen zu zeigen suchte, liesse sich in der Ausgestaltung aller Akteurinnen und Akteuren, die in den taciteischen Texten in Szene gesetzt sind, untersuchen: Das Bild der handelnden Figuren ist Ergebnis eines Spiels mit Geschlechtsnormen. Was sich darin zeigt, ist zunächst der narrative Handlungsspielraum eines Autors, der mit seiner Erzählung die historische Wirklichkeit schafft, die uns heute zugänglich ist. Damit aber kann sich die historische Analyse nicht begnügen – sie muss sich der Frage der aussertextuellen Realität stellen. Damit wird das Verhältnis zwischen der narrativen Geschlechtsperformanz in den Texten und dem Handlungsspielraum, der agency der historischen Personen in der performativen Gestaltung ihrer Geschlechtsidentität zum Problem.
4. Narrative und aussertextuelle Performanz von Geschlecht
Die hier herausgegriffenen Beispiele männlicher und weiblicher Figuren machen deutlich, dass die geschlechtsspezifische Figurengestaltung in den taciteischen Texten keine simple Umsetzung normativer Weiblichkeit und Männlichkeit ist. Diese normativen Festlegungen existieren sehr wohl und lassen sich in der Textanalyse herausarbeiten, indem die Elemente aus ihrem Erzählkontext herausgelöst und in Aussageserien eingeordnet werden; das Ergebnis sind die Thesen zu den Regeln des Geschlechtsdiskurses, die dem Text eingeschrieben sind, wie ich sie oben in Abschnitt 2 darlegte. Es gibt keine Gründe, an der aussertextuellen Existenz dieses Diskurses zu zweifeln: Ein Tacitus will nicht über Männlichkeit und Weiblichkeit schreiben und deshalb verwendet er seine erzählerische Arbeit nicht darauf, Geschlechtsdefinitionen zu ‹erfinden›; vielmehr greift er auf seine Vorstellungen und diejenigen seines (im Schreibakt: virtuellen) Publikums, d.h. auf die gesellschaftlichen Vorstellungen, zurück. Um spezifische Einzelfiguren mit ihrer für die Geschichtserzählung notwendigen eigenen Identität auszugestalten, bedient sich folglich der Geschichtsschreiber Tacitus der «culturally available symbols» und «normative concepts»133, aus denen die Gesellschaft seiner Zeit Geschlecht konstruiert. Und diese Identität der Figuren ist eine zugleich geschlechtsspezifische, gesellschaftlich und rechtlich bestimmte: Sie setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Elementen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die sich mit andern Elementen wie Freiheits- und Rechtsstatus, verwandtschaftlicher und gesellschaftlicher Position und politisch-historischer Situation überkreuzen und verknüpfen. Damit erweist sich aber die historiographische Erzählung selbst als eine gesellschaftlichen Instanz (nebst vielen anderen), die durch den Geschlechtsdiskurs geprägt ist und diesen zugleich ausformt in der (narrativen) Performanz von Geschlechtsidentitäten. In dieser geschlechts-spezifischen Ausgestaltung der Figuren aber werden Machtverhältnisse zum Ausdruck gebracht, weil Macht in der römischen Gesellschaft im Kräfteverhältnis von dominierender Männlichkeit und sich unterordnender Weiblichkeit gedacht wird.
Ich habe auf den voranstehenden Seiten den Versuch unternommen, an den Beispielen des Otho, des Vitellius und ihrer Soldaten, an der gesellschaftlichen Position von Söhnen, an den Figuren des Agricola, des Thrasea Paetus, der Agrippina maior und der Epicharis zu zeigen, wie unterschiedliche Geschlechtsidentitäten in den taciteischen Texten konstruiert werden. Immer dient diese Konstruktion auch der Erklärung einer Position von Einzelnen oder Gruppen in einer gesellschaftlichen Hierarchie der Macht: das (weibliche) obsequium von Soldaten bestimmt ihre Stellung gegenüber dem (männlich) dominierenden Feldherrn; die (männliche) Fähigkeit der Epicharis, sich angesichts der Folterung zu beherrschen gibt ihr eine Position der Stärke gegenüber den erfolglosen Folterknechten (die ihren Zorn auf unmännliche Weise nicht zu zügeln vermögen); mit (männlicher) Standfestigkeit nimmt Agrippina eine Position ein, die es dem Geschichtsschreiber erlaubt, sie als Gefahr für die dominierende Position des Feldherrn hinzustellen. Ist das nun schlicht das Spiel mit Geschlechtsnormen, das der schreibende Autor pflegt? Mit Sicherheit kann nicht direkt vom Text auf historische Wirklichkeit geschlossen werden – dagegen sprechen allein schon die Widersprüche in der Geschichtserzählung selbst. Dennoch möchte ich postulieren, dass eine solche narrative und intersektionale Performanz von Geschlecht nicht vorstellbar ist ohne eine aussertextuelle Wirklichkeit: Römische Männer und Frauen verfügen über einen Handlungsspielraum, der ihnen die Möglichkeit der Entscheidung, Elemente von Weiblichkeit und Männlichkeit in unterschiedlicher Weise zu aktualisieren, gibt. Dieser Handlungsspielraum ist keineswegs unbegrenzt: die Performanz von Geschlecht überkreuzt sich mit der gesellschaftlichen Existenz als Sklavin, als Soldat, als aristokratische matrona, als Senator oder als princeps, und in dieser komplexen Verflechtung bilden sich die Grenzen der Räume der Handlungsoptionen heraus. Das Ausloten dieser Grenzen und damit die Annäherung an die die Spielräume geschlechtsspezifischen Handelns im realen Leben der Menschen der römischen Gesellschaft sind zentrale Herausforderungen künftiger Forschungen über Geschlecht in den Texten und Bildern der Antike134.